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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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seine Nachkommenschaft so gleichgiltig, weil die Befruchtung
dort eine innere ist und die im Innern des weiblichen Kör-
pers vorgehende Entwickelung ihm verborgen bleibt, während
umgekehrt der männliche Fisch häufig die Mutterrolle über-
nimmt, weil er seine Geschlechtsprodukte zuletzt über die
Eier ergiesst, indessen das Weibchen, das von ihnen getrennt
ist, sie in dem unbeständigen Elemente, in das sie geworfen
wurden, nicht mehr erkennen kann. Indem so zwischen Er-
zeuger und Erzeugtem die organische Gemeinschaft fort-
besteht, auch wo ihre physische Erscheinung abgeschlossen
ist, wird gewissermassen eine familienhafte Einheit a priori
hergestellt. Der Zusammenschluss geht hier nicht aus dem
Bestreben des Individuums hervor, sich oder andere zu er-
halten, sondern umgekehrt folgt dieser Trieb, die Gesamtheit
der Familie zu schützen, aus dem Gefühl der Einheit, das
den Erzeuger mit dieser zusammenschliesst. Dass die wach-
sende Intensität dieser Beziehungen, wie wir sie bei den
höheren Tieren und schliesslich beim Menschen beobachten,
eine über die unmittelbare Abstammung hinausreichende So-
lidarität der Familie bewirkt, ist psychologisch leicht ver-
ständlich; ebenso, dass auch die Jungen schliesslich aus der
Passivität heraustreten, die zunächst ihr Verhalten in der
Familieneinheit charakterisiert, und wenigstens dadurch, dass
sie den elterlichen Schutz suchen, sich ihm unterordnen und
die Masse der zusammenhaltenden Gruppe vermehren, zum
Bestande und Fortschritt dieser beitragen.

Überblicken wir diese Erwägungen, so tritt uns neben
dem Seite 26 f. genannten ein weiteres Einteilungsprinzip der
Ursachen entgegen, die dem Dritten gegenüber das Mitglied
einer Gruppe nur als ein solches, nicht aber als Individualität
erscheinen lassen. Zunächst machen sich uns dahin wirkende
Beziehungen bemerkbar, die von den Verhältnissen zu dritten
Personen relativ unabhängig sind: die organische Zusammen-
gehörigkeit von Eltern und Kindern, die Ähnlichkeit der-
selben untereinander, die Anpassung der Interessen an gleiche
Lebensbedingungen, ihre Verschmelzung auch an solchen
Punkten, die abseits von der Beziehung zu anderen Stämmen
stehen -- alles dies verursacht eine Einheitlichkeit, die es
einerseits dem Dritten erschwert, den Einzelnen als Individu-
alität zu erkennen und zu behandeln, andererseits die Aktion
der Gruppe gegen alle Aussenstehenden hinreichend zu-
sammenschliesst, um das Verhältnis zu Einem auch mit sach-
licher Richtigkeit als ein solches zur Gesamtheit gelten zu
lassen, auch gegen diese diejenigen Gefühle und Reaktionen
solidarisch zu richten, die ein Einzelner hervorgerufen hat.
Während hier also eine ursprüngliche Einheit den Grund
bildet, dass dem Dritten gegenüber einheitlich gehandelt wird,
sahen wir zweitens, dass die Not des Lebens vielfach eine

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seine Nachkommenschaft so gleichgiltig, weil die Befruchtung
dort eine innere ist und die im Innern des weiblichen Kör-
pers vorgehende Entwickelung ihm verborgen bleibt, während
umgekehrt der männliche Fisch häufig die Mutterrolle über-
nimmt, weil er seine Geschlechtsprodukte zuletzt über die
Eier ergieſst, indessen das Weibchen, das von ihnen getrennt
ist, sie in dem unbeständigen Elemente, in das sie geworfen
wurden, nicht mehr erkennen kann. Indem so zwischen Er-
zeuger und Erzeugtem die organische Gemeinschaft fort-
besteht, auch wo ihre physische Erscheinung abgeschlossen
ist, wird gewissermaſsen eine familienhafte Einheit a priori
hergestellt. Der Zusammenschluſs geht hier nicht aus dem
Bestreben des Individuums hervor, sich oder andere zu er-
halten, sondern umgekehrt folgt dieser Trieb, die Gesamtheit
der Familie zu schützen, aus dem Gefühl der Einheit, das
den Erzeuger mit dieser zusammenschlieſst. Daſs die wach-
sende Intensität dieser Beziehungen, wie wir sie bei den
höheren Tieren und schlieſslich beim Menschen beobachten,
eine über die unmittelbare Abstammung hinausreichende So-
lidarität der Familie bewirkt, ist psychologisch leicht ver-
ständlich; ebenso, daſs auch die Jungen schlieſslich aus der
Passivität heraustreten, die zunächst ihr Verhalten in der
Familieneinheit charakterisiert, und wenigstens dadurch, daſs
sie den elterlichen Schutz suchen, sich ihm unterordnen und
die Masse der zusammenhaltenden Gruppe vermehren, zum
Bestande und Fortschritt dieser beitragen.

Überblicken wir diese Erwägungen, so tritt uns neben
dem Seite 26 f. genannten ein weiteres Einteilungsprinzip der
Ursachen entgegen, die dem Dritten gegenüber das Mitglied
einer Gruppe nur als ein solches, nicht aber als Individualität
erscheinen lassen. Zunächst machen sich uns dahin wirkende
Beziehungen bemerkbar, die von den Verhältnissen zu dritten
Personen relativ unabhängig sind: die organische Zusammen-
gehörigkeit von Eltern und Kindern, die Ähnlichkeit der-
selben untereinander, die Anpassung der Interessen an gleiche
Lebensbedingungen, ihre Verschmelzung auch an solchen
Punkten, die abseits von der Beziehung zu anderen Stämmen
stehen — alles dies verursacht eine Einheitlichkeit, die es
einerseits dem Dritten erschwert, den Einzelnen als Individu-
alität zu erkennen und zu behandeln, andererseits die Aktion
der Gruppe gegen alle Auſsenstehenden hinreichend zu-
sammenschlieſst, um das Verhältnis zu Einem auch mit sach-
licher Richtigkeit als ein solches zur Gesamtheit gelten zu
lassen, auch gegen diese diejenigen Gefühle und Reaktionen
solidarisch zu richten, die ein Einzelner hervorgerufen hat.
Während hier also eine ursprüngliche Einheit den Grund
bildet, daſs dem Dritten gegenüber einheitlich gehandelt wird,
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[31/0045] X 1. seine Nachkommenschaft so gleichgiltig, weil die Befruchtung dort eine innere ist und die im Innern des weiblichen Kör- pers vorgehende Entwickelung ihm verborgen bleibt, während umgekehrt der männliche Fisch häufig die Mutterrolle über- nimmt, weil er seine Geschlechtsprodukte zuletzt über die Eier ergieſst, indessen das Weibchen, das von ihnen getrennt ist, sie in dem unbeständigen Elemente, in das sie geworfen wurden, nicht mehr erkennen kann. Indem so zwischen Er- zeuger und Erzeugtem die organische Gemeinschaft fort- besteht, auch wo ihre physische Erscheinung abgeschlossen ist, wird gewissermaſsen eine familienhafte Einheit a priori hergestellt. Der Zusammenschluſs geht hier nicht aus dem Bestreben des Individuums hervor, sich oder andere zu er- halten, sondern umgekehrt folgt dieser Trieb, die Gesamtheit der Familie zu schützen, aus dem Gefühl der Einheit, das den Erzeuger mit dieser zusammenschlieſst. Daſs die wach- sende Intensität dieser Beziehungen, wie wir sie bei den höheren Tieren und schlieſslich beim Menschen beobachten, eine über die unmittelbare Abstammung hinausreichende So- lidarität der Familie bewirkt, ist psychologisch leicht ver- ständlich; ebenso, daſs auch die Jungen schlieſslich aus der Passivität heraustreten, die zunächst ihr Verhalten in der Familieneinheit charakterisiert, und wenigstens dadurch, daſs sie den elterlichen Schutz suchen, sich ihm unterordnen und die Masse der zusammenhaltenden Gruppe vermehren, zum Bestande und Fortschritt dieser beitragen. Überblicken wir diese Erwägungen, so tritt uns neben dem Seite 26 f. genannten ein weiteres Einteilungsprinzip der Ursachen entgegen, die dem Dritten gegenüber das Mitglied einer Gruppe nur als ein solches, nicht aber als Individualität erscheinen lassen. Zunächst machen sich uns dahin wirkende Beziehungen bemerkbar, die von den Verhältnissen zu dritten Personen relativ unabhängig sind: die organische Zusammen- gehörigkeit von Eltern und Kindern, die Ähnlichkeit der- selben untereinander, die Anpassung der Interessen an gleiche Lebensbedingungen, ihre Verschmelzung auch an solchen Punkten, die abseits von der Beziehung zu anderen Stämmen stehen — alles dies verursacht eine Einheitlichkeit, die es einerseits dem Dritten erschwert, den Einzelnen als Individu- alität zu erkennen und zu behandeln, andererseits die Aktion der Gruppe gegen alle Auſsenstehenden hinreichend zu- sammenschlieſst, um das Verhältnis zu Einem auch mit sach- licher Richtigkeit als ein solches zur Gesamtheit gelten zu lassen, auch gegen diese diejenigen Gefühle und Reaktionen solidarisch zu richten, die ein Einzelner hervorgerufen hat. Während hier also eine ursprüngliche Einheit den Grund bildet, daſs dem Dritten gegenüber einheitlich gehandelt wird, sahen wir zweitens, daſs die Not des Lebens vielfach eine

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/45>, abgerufen am 26.04.2024.