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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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verbindende Glied: die Unterstützung durch diese Familie,
schon längst weggefallen war. Mit einer starken freiheit-
lichen Tendenz der Völker konnte dies zusammentreffen,
weil unter Völkern, die tyrannisch regiert wurden und ihre
socialen Verhältnisse diesem Regime angepasst hatten, mäch-
tige Familiengruppen nicht bestanden haben können. Eine
starke Centralgewalt muss derartige Staaten im Staate zu be-
seitigen und ihrerseits dem Einzelnen die sociale, politische,
religiöse Anlehnung und vor allem den persönlichen und
Rechtsschutz zu gewähren suchen, den er in politisch freieren
Gruppen nur durch den Anschluss der Familie findet. Des-
halb ist für das römische Kaisertum gerade dies so bezeich-
nend, dass es Freigelassene an die höchsten Stellen setzte
und so im Gegensatz zu allen Anschauungen der freieren
Zeit aus demjenigen, der seitens seiner Familie nichts war,
willkürlich alles machte. So löst sich der scheinbar psycho-
logische Widerspruch zwischen dem Freiheitssinn der Völker
und ihrer Bindung der individuellen Bedeutung an den Zu-
fall der Geburt, sobald unsere Hypothese gilt, dass die letztere
dem realen Schutze durch die Familie entstammt, der seiner-
seits nur in freieren Staaten möglich ist, in denen die Fa-
milie selbständige Macht besitzen darf. Wie sehr übrigens
die Solidarität auch der weiteren Familie sich noch in unsre
Kultur hineinerstreckt, sieht man recht aus der Ängstlichkeit,
mit der die meisten Personen selbst entfernte Verwandte von
social niedrigerer Stellung von sich entfernen und manchmal
geradezu verleugnen; gerade die Besorgnis, durch sie kom-
promittiert zu werden, und die Bemühung, die Zusammen-
gehörigkeit mit ihnen abzuweisen, zeigt, welche Bedeutung
man dieser Zusammengehörigkeit doch noch zutraut.

Der praktische Zusammenschluss, in dem der Dritte die
Familie erblickt, ist von vornherein kein völlig gegenseitiger,
sondern nur der Schutz, den die Eltern den Kindern zu teil
werden lassen. Man kann dies wohl als eine Fortsetzung der
Selbsterhaltung ansehen und zwar schon von einer ziemlich
tiefen Stufe der Organismen an: das Weibchen muss die Eier
oder den Fötus zu sehr als pars viscerum fühlen, vor allem
muss die Ausstossung derselben, ebenso wie für das Männ-
chen die Ejaculation des Samens, mit einer zu grossen Er-
regung verbunden sein, um nicht dem Wesen, mit dessen Er-
scheinung diese Erregungen associiert sind, eine hochgradige
Aufmerksamkeit zuzuwenden und es noch als zur Sphäre des
eigenen Ich gehörig zu behandeln; das gleiche Interesse, so
hat ein Zoologe dies ausgedrückt, das der Erzeuger für die
associiert gebliebenen Teile seines Körpers fühlt, bewahrt er
eine Zeit lang fast in demselben Masse für jene Elemente,
welche sich von ihm losgelöst haben, ohne ihm schon fremd
zu sein. Daher ist bei den Insekten das Männchen gegen

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verbindende Glied: die Unterstützung durch diese Familie,
schon längst weggefallen war. Mit einer starken freiheit-
lichen Tendenz der Völker konnte dies zusammentreffen,
weil unter Völkern, die tyrannisch regiert wurden und ihre
socialen Verhältnisse diesem Regime angepaſst hatten, mäch-
tige Familiengruppen nicht bestanden haben können. Eine
starke Centralgewalt muſs derartige Staaten im Staate zu be-
seitigen und ihrerseits dem Einzelnen die sociale, politische,
religiöse Anlehnung und vor allem den persönlichen und
Rechtsschutz zu gewähren suchen, den er in politisch freieren
Gruppen nur durch den Anschluſs der Familie findet. Des-
halb ist für das römische Kaisertum gerade dies so bezeich-
nend, daſs es Freigelassene an die höchsten Stellen setzte
und so im Gegensatz zu allen Anschauungen der freieren
Zeit aus demjenigen, der seitens seiner Familie nichts war,
willkürlich alles machte. So löst sich der scheinbar psycho-
logische Widerspruch zwischen dem Freiheitssinn der Völker
und ihrer Bindung der individuellen Bedeutung an den Zu-
fall der Geburt, sobald unsere Hypothese gilt, daſs die letztere
dem realen Schutze durch die Familie entstammt, der seiner-
seits nur in freieren Staaten möglich ist, in denen die Fa-
milie selbständige Macht besitzen darf. Wie sehr übrigens
die Solidarität auch der weiteren Familie sich noch in unsre
Kultur hineinerstreckt, sieht man recht aus der Ängstlichkeit,
mit der die meisten Personen selbst entfernte Verwandte von
social niedrigerer Stellung von sich entfernen und manchmal
geradezu verleugnen; gerade die Besorgnis, durch sie kom-
promittiert zu werden, und die Bemühung, die Zusammen-
gehörigkeit mit ihnen abzuweisen, zeigt, welche Bedeutung
man dieser Zusammengehörigkeit doch noch zutraut.

Der praktische Zusammenschluſs, in dem der Dritte die
Familie erblickt, ist von vornherein kein völlig gegenseitiger,
sondern nur der Schutz, den die Eltern den Kindern zu teil
werden lassen. Man kann dies wohl als eine Fortsetzung der
Selbsterhaltung ansehen und zwar schon von einer ziemlich
tiefen Stufe der Organismen an: das Weibchen muſs die Eier
oder den Fötus zu sehr als pars viscerum fühlen, vor allem
muſs die Ausstoſsung derselben, ebenso wie für das Männ-
chen die Ejaculation des Samens, mit einer zu groſsen Er-
regung verbunden sein, um nicht dem Wesen, mit dessen Er-
scheinung diese Erregungen associiert sind, eine hochgradige
Aufmerksamkeit zuzuwenden und es noch als zur Sphäre des
eigenen Ich gehörig zu behandeln; das gleiche Interesse, so
hat ein Zoologe dies ausgedrückt, das der Erzeuger für die
associiert gebliebenen Teile seines Körpers fühlt, bewahrt er
eine Zeit lang fast in demselben Maſse für jene Elemente,
welche sich von ihm losgelöst haben, ohne ihm schon fremd
zu sein. Daher ist bei den Insekten das Männchen gegen

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[30/0044] X 1. verbindende Glied: die Unterstützung durch diese Familie, schon längst weggefallen war. Mit einer starken freiheit- lichen Tendenz der Völker konnte dies zusammentreffen, weil unter Völkern, die tyrannisch regiert wurden und ihre socialen Verhältnisse diesem Regime angepaſst hatten, mäch- tige Familiengruppen nicht bestanden haben können. Eine starke Centralgewalt muſs derartige Staaten im Staate zu be- seitigen und ihrerseits dem Einzelnen die sociale, politische, religiöse Anlehnung und vor allem den persönlichen und Rechtsschutz zu gewähren suchen, den er in politisch freieren Gruppen nur durch den Anschluſs der Familie findet. Des- halb ist für das römische Kaisertum gerade dies so bezeich- nend, daſs es Freigelassene an die höchsten Stellen setzte und so im Gegensatz zu allen Anschauungen der freieren Zeit aus demjenigen, der seitens seiner Familie nichts war, willkürlich alles machte. So löst sich der scheinbar psycho- logische Widerspruch zwischen dem Freiheitssinn der Völker und ihrer Bindung der individuellen Bedeutung an den Zu- fall der Geburt, sobald unsere Hypothese gilt, daſs die letztere dem realen Schutze durch die Familie entstammt, der seiner- seits nur in freieren Staaten möglich ist, in denen die Fa- milie selbständige Macht besitzen darf. Wie sehr übrigens die Solidarität auch der weiteren Familie sich noch in unsre Kultur hineinerstreckt, sieht man recht aus der Ängstlichkeit, mit der die meisten Personen selbst entfernte Verwandte von social niedrigerer Stellung von sich entfernen und manchmal geradezu verleugnen; gerade die Besorgnis, durch sie kom- promittiert zu werden, und die Bemühung, die Zusammen- gehörigkeit mit ihnen abzuweisen, zeigt, welche Bedeutung man dieser Zusammengehörigkeit doch noch zutraut. Der praktische Zusammenschluſs, in dem der Dritte die Familie erblickt, ist von vornherein kein völlig gegenseitiger, sondern nur der Schutz, den die Eltern den Kindern zu teil werden lassen. Man kann dies wohl als eine Fortsetzung der Selbsterhaltung ansehen und zwar schon von einer ziemlich tiefen Stufe der Organismen an: das Weibchen muſs die Eier oder den Fötus zu sehr als pars viscerum fühlen, vor allem muſs die Ausstoſsung derselben, ebenso wie für das Männ- chen die Ejaculation des Samens, mit einer zu groſsen Er- regung verbunden sein, um nicht dem Wesen, mit dessen Er- scheinung diese Erregungen associiert sind, eine hochgradige Aufmerksamkeit zuzuwenden und es noch als zur Sphäre des eigenen Ich gehörig zu behandeln; das gleiche Interesse, so hat ein Zoologe dies ausgedrückt, das der Erzeuger für die associiert gebliebenen Teile seines Körpers fühlt, bewahrt er eine Zeit lang fast in demselben Maſse für jene Elemente, welche sich von ihm losgelöst haben, ohne ihm schon fremd zu sein. Daher ist bei den Insekten das Männchen gegen

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/44>, abgerufen am 25.04.2024.