Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

war; und also war die gedoppelte Weissagung, die Vater
und Sohn erhalten, und der sie beide entgehen woll¬
ten, an beiden vom Geschick erfüllt worden. Ein
Mann aus Platäa, mit Namen Damasippus, fand die
Leichen der Erschlagenen am Kreuzwege liegen, er¬
barmte sich ihrer, und begrub sie. Ihr Denkmal aus
angehäuften Steinen mitten im Kreuzwege sah nach vie¬
len hundert Jahren noch der Wanderer.


Oedipus in Theben, heirathet seine Mutter.

Nicht lange Zeit, nachdem dieses geschehen, war vor
den Thoren der Stadt Thebe in Böotien die Sphinx erschie¬
nen, ein geflügeltes Ungeheuer, vorn wie eine Jungfrau, hin¬
ten wie ein Löwe gestaltet. Sie war eine Tochter des Typhon
und der Echidna, der schlangengestalteten Nymphe, der
fruchtbaren Mutter vieler Ungeheuer, und eine Schwester
des Höllenhundes Cerberus, der Hyder von Lerna, und
der feuerspeienden Chimära. Dieses Ungeheuer hatte sich
auf einen Felsen gelagert, und legte dort den Bewohnern von
Thebe allerlei Räthsel vor, die sie von den Musen erlernt
hatte. Erfolgte die Auflösung nicht, so ergriff sie denje¬
nigen, der es übernommen hatte, das Räthsel zu lösen,
zerriß ihn und fraß ihn auf. Dieser Jammer kam über
die Stadt, als sie eben um ihren König trauerte, der,
-- Niemand wußte von wem -- auf einer Reise erschla¬
gen worden war, und an dessen Stelle Kreon, Bruder
der Königin Jokaste, die Zügel der Herrschaft ergriffen
hatte. Zuletzt kam es, daß dieses Kreon eigener Sohn,
dem die Sphinx auch ein Räthsel aufgegeben, und der es

war; und alſo war die gedoppelte Weiſſagung, die Vater
und Sohn erhalten, und der ſie beide entgehen woll¬
ten, an beiden vom Geſchick erfüllt worden. Ein
Mann aus Platäa, mit Namen Damaſippus, fand die
Leichen der Erſchlagenen am Kreuzwege liegen, er¬
barmte ſich ihrer, und begrub ſie. Ihr Denkmal aus
angehäuften Steinen mitten im Kreuzwege ſah nach vie¬
len hundert Jahren noch der Wanderer.


Oedipus in Theben, heirathet ſeine Mutter.

Nicht lange Zeit, nachdem dieſes geſchehen, war vor
den Thoren der Stadt Thebe in Böotien die Sphinx erſchie¬
nen, ein geflügeltes Ungeheuer, vorn wie eine Jungfrau, hin¬
ten wie ein Löwe geſtaltet. Sie war eine Tochter des Typhon
und der Echidna, der ſchlangengeſtalteten Nymphe, der
fruchtbaren Mutter vieler Ungeheuer, und eine Schweſter
des Höllenhundes Cerberus, der Hyder von Lerna, und
der feuerſpeienden Chimära. Dieſes Ungeheuer hatte ſich
auf einen Felſen gelagert, und legte dort den Bewohnern von
Thebe allerlei Räthſel vor, die ſie von den Muſen erlernt
hatte. Erfolgte die Auflöſung nicht, ſo ergriff ſie denje¬
nigen, der es übernommen hatte, das Räthſel zu löſen,
zerriß ihn und fraß ihn auf. Dieſer Jammer kam über
die Stadt, als ſie eben um ihren König trauerte, der,
— Niemand wußte von wem — auf einer Reiſe erſchla¬
gen worden war, und an deſſen Stelle Kreon, Bruder
der Königin Jokaſte, die Zügel der Herrſchaft ergriffen
hatte. Zuletzt kam es, daß dieſes Kreon eigener Sohn,
dem die Sphinx auch ein Räthſel aufgegeben, und der es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0342" n="316"/>
war; und al&#x017F;o war die gedoppelte Wei&#x017F;&#x017F;agung, die Vater<lb/>
und Sohn erhalten, und der &#x017F;ie beide entgehen woll¬<lb/>
ten, an beiden vom Ge&#x017F;chick erfüllt worden. Ein<lb/>
Mann aus Platäa, mit Namen Dama&#x017F;ippus, fand die<lb/>
Leichen der Er&#x017F;chlagenen am Kreuzwege liegen, er¬<lb/>
barmte &#x017F;ich ihrer, und begrub &#x017F;ie. Ihr Denkmal aus<lb/>
angehäuften Steinen mitten im Kreuzwege &#x017F;ah nach vie¬<lb/>
len hundert Jahren noch der Wanderer.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          </div>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b #fr">Oedipus in Theben, heirathet &#x017F;eine Mutter.</hi><lb/>
            </head>
            <p>Nicht lange Zeit, nachdem die&#x017F;es ge&#x017F;chehen, war vor<lb/>
den Thoren der Stadt Thebe in Böotien die <hi rendition="#g">Sphinx</hi> er&#x017F;chie¬<lb/>
nen, ein geflügeltes Ungeheuer, vorn wie eine Jungfrau, hin¬<lb/>
ten wie ein Löwe ge&#x017F;taltet. Sie war eine Tochter des Typhon<lb/>
und der Echidna, der &#x017F;chlangenge&#x017F;talteten Nymphe, der<lb/>
fruchtbaren Mutter vieler Ungeheuer, und eine Schwe&#x017F;ter<lb/>
des Höllenhundes Cerberus, der Hyder von Lerna, und<lb/>
der feuer&#x017F;peienden Chimära. Die&#x017F;es Ungeheuer hatte &#x017F;ich<lb/>
auf einen Fel&#x017F;en gelagert, und legte dort den Bewohnern von<lb/>
Thebe allerlei Räth&#x017F;el vor, die &#x017F;ie von den Mu&#x017F;en erlernt<lb/>
hatte. Erfolgte die Auflö&#x017F;ung nicht, &#x017F;o ergriff &#x017F;ie denje¬<lb/>
nigen, der es übernommen hatte, das Räth&#x017F;el zu lö&#x017F;en,<lb/>
zerriß ihn und fraß ihn auf. Die&#x017F;er Jammer kam über<lb/>
die Stadt, als &#x017F;ie eben um ihren König trauerte, der,<lb/>
&#x2014; Niemand wußte von wem &#x2014; auf einer Rei&#x017F;e er&#x017F;chla¬<lb/>
gen worden war, und an de&#x017F;&#x017F;en Stelle Kreon, Bruder<lb/>
der Königin Joka&#x017F;te, die Zügel der Herr&#x017F;chaft ergriffen<lb/>
hatte. Zuletzt kam es, daß die&#x017F;es Kreon eigener Sohn,<lb/>
dem die Sphinx auch ein Räth&#x017F;el aufgegeben, und der es<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[316/0342] war; und alſo war die gedoppelte Weiſſagung, die Vater und Sohn erhalten, und der ſie beide entgehen woll¬ ten, an beiden vom Geſchick erfüllt worden. Ein Mann aus Platäa, mit Namen Damaſippus, fand die Leichen der Erſchlagenen am Kreuzwege liegen, er¬ barmte ſich ihrer, und begrub ſie. Ihr Denkmal aus angehäuften Steinen mitten im Kreuzwege ſah nach vie¬ len hundert Jahren noch der Wanderer. Oedipus in Theben, heirathet ſeine Mutter. Nicht lange Zeit, nachdem dieſes geſchehen, war vor den Thoren der Stadt Thebe in Böotien die Sphinx erſchie¬ nen, ein geflügeltes Ungeheuer, vorn wie eine Jungfrau, hin¬ ten wie ein Löwe geſtaltet. Sie war eine Tochter des Typhon und der Echidna, der ſchlangengeſtalteten Nymphe, der fruchtbaren Mutter vieler Ungeheuer, und eine Schweſter des Höllenhundes Cerberus, der Hyder von Lerna, und der feuerſpeienden Chimära. Dieſes Ungeheuer hatte ſich auf einen Felſen gelagert, und legte dort den Bewohnern von Thebe allerlei Räthſel vor, die ſie von den Muſen erlernt hatte. Erfolgte die Auflöſung nicht, ſo ergriff ſie denje¬ nigen, der es übernommen hatte, das Räthſel zu löſen, zerriß ihn und fraß ihn auf. Dieſer Jammer kam über die Stadt, als ſie eben um ihren König trauerte, der, — Niemand wußte von wem — auf einer Reiſe erſchla¬ gen worden war, und an deſſen Stelle Kreon, Bruder der Königin Jokaſte, die Zügel der Herrſchaft ergriffen hatte. Zuletzt kam es, daß dieſes Kreon eigener Sohn, dem die Sphinx auch ein Räthſel aufgegeben, und der es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/342
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/342>, abgerufen am 17.11.2024.