Vor allen Dingen machte er sich auf den Weg, den gewaltthätigen und eigenmächtigen König Laomedon, den Erbauer und Beherrscher Troja's, zu züchtigen. Denn als Herkules, von dem Amazonenkampfe zurückkehrend, die von dem Drachen bedrohte Tochter dieses Fürsten, Hesione, befreit hatte, hielt ihm der wortbrüchige Laomedon den versprochenen Lohn, die schnellen Marspferde, zurück, und ließ ihn scheltend weiter ziehen. Jetzt nahm Herkules nicht mehr als sechs Schiffe und nur eine geringe Menge Kriegsvolkes mit sich. Aber unter diesen waren die ersten Helden Griechenlands, Peleus, Oikleus, Telamon. Zu dem Letztern war Herkules in seine Löwenhaut gekleidet gekommen, und hatte ihn eben beim Schmause getroffen. Telamon erhob sich vom Tische, und reichte dem will¬ kommenen Gast eine goldne Schale voll Weines, hieß ihn sitzen und trinken. Freudig bewegt von solcher Gast¬ freundschaft, hub Herkules die Hände gen Himmel und betete: "Vater Jupiter, wenn du je meine Bitten gnädig erhöret hast, so flehe ich jetzt zu dir, daß du dem kinder¬ losen Telamon hier einen kühnen Sohn zum Erben ver¬ leihen mögest, so unverwundbar, wie ich es in dieser Haut des nemeischen Löwen bin. Hoher Muth soll ihm immer zur Seite seyn!" Kaum hatte Herkules das Wort geredet, so sandte ihm der Gott den König der Vögel, einen mäch¬ tigen Adler. Dem Herkules lachte darüber das Herz im Leibe; wie ein Wahrsager rief er begeistert aus: "Ja, Tela¬ mon, du wirst den Sohn haben, den du begehrst, herrlich wird er seyn, wie dieser gebieterische Adler, und Ajax
Die ſpäteren Heldenthaten des Herkules.
Vor allen Dingen machte er ſich auf den Weg, den gewaltthätigen und eigenmächtigen König Laomedon, den Erbauer und Beherrſcher Troja's, zu züchtigen. Denn als Herkules, von dem Amazonenkampfe zurückkehrend, die von dem Drachen bedrohte Tochter dieſes Fürſten, Heſione, befreit hatte, hielt ihm der wortbrüchige Laomedon den verſprochenen Lohn, die ſchnellen Marspferde, zurück, und ließ ihn ſcheltend weiter ziehen. Jetzt nahm Herkules nicht mehr als ſechs Schiffe und nur eine geringe Menge Kriegsvolkes mit ſich. Aber unter dieſen waren die erſten Helden Griechenlands, Peleus, Oïkleus, Telamon. Zu dem Letztern war Herkules in ſeine Löwenhaut gekleidet gekommen, und hatte ihn eben beim Schmauſe getroffen. Telamon erhob ſich vom Tiſche, und reichte dem will¬ kommenen Gaſt eine goldne Schale voll Weines, hieß ihn ſitzen und trinken. Freudig bewegt von ſolcher Gaſt¬ freundſchaft, hub Herkules die Hände gen Himmel und betete: „Vater Jupiter, wenn du je meine Bitten gnädig erhöret haſt, ſo flehe ich jetzt zu dir, daß du dem kinder¬ loſen Telamon hier einen kühnen Sohn zum Erben ver¬ leihen mögeſt, ſo unverwundbar, wie ich es in dieſer Haut des nemeiſchen Löwen bin. Hoher Muth ſoll ihm immer zur Seite ſeyn!“ Kaum hatte Herkules das Wort geredet, ſo ſandte ihm der Gott den König der Vögel, einen mäch¬ tigen Adler. Dem Herkules lachte darüber das Herz im Leibe; wie ein Wahrſager rief er begeiſtert aus: „Ja, Tela¬ mon, du wirſt den Sohn haben, den du begehrſt, herrlich wird er ſeyn, wie dieſer gebieteriſche Adler, und Ajax
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0278"n="252"/></div><divn="3"><head><hirendition="#b #fr #g">Die ſpäteren Heldenthaten des Herkules.</hi><lb/></head><p>Vor allen Dingen machte er ſich auf den Weg, den<lb/>
gewaltthätigen und eigenmächtigen König Laomedon, den<lb/>
Erbauer und Beherrſcher Troja's, zu züchtigen. Denn<lb/>
als Herkules, von dem Amazonenkampfe zurückkehrend, die<lb/>
von dem Drachen bedrohte Tochter dieſes Fürſten, Heſione,<lb/>
befreit hatte, hielt ihm der wortbrüchige Laomedon<lb/>
den verſprochenen Lohn, die ſchnellen Marspferde, zurück,<lb/>
und ließ ihn ſcheltend weiter ziehen. Jetzt nahm Herkules<lb/>
nicht mehr als ſechs Schiffe und nur eine geringe Menge<lb/>
Kriegsvolkes mit ſich. Aber unter dieſen waren die erſten<lb/>
Helden Griechenlands, Peleus, O<hirendition="#aq">ï</hi>kleus, Telamon. Zu<lb/>
dem Letztern war Herkules in ſeine Löwenhaut gekleidet<lb/>
gekommen, und hatte ihn eben beim Schmauſe getroffen.<lb/>
Telamon erhob ſich vom Tiſche, und reichte dem will¬<lb/>
kommenen Gaſt eine goldne Schale voll Weines, hieß<lb/>
ihn ſitzen und trinken. Freudig bewegt von ſolcher Gaſt¬<lb/>
freundſchaft, hub Herkules die Hände gen Himmel und<lb/>
betete: „Vater Jupiter, wenn du je meine Bitten gnädig<lb/>
erhöret haſt, ſo flehe ich jetzt zu dir, daß du dem kinder¬<lb/>
loſen Telamon hier einen kühnen Sohn zum Erben ver¬<lb/>
leihen mögeſt, ſo unverwundbar, wie ich es in dieſer Haut<lb/>
des nemeiſchen Löwen bin. Hoher Muth ſoll ihm immer<lb/>
zur Seite ſeyn!“ Kaum hatte Herkules das Wort geredet,<lb/>ſo ſandte ihm der Gott den König der Vögel, einen mäch¬<lb/>
tigen Adler. Dem Herkules lachte darüber das Herz im Leibe;<lb/>
wie ein Wahrſager rief er begeiſtert aus: „Ja, Tela¬<lb/>
mon, du wirſt den Sohn haben, den du begehrſt, herrlich<lb/>
wird er ſeyn, wie dieſer gebieteriſche Adler, und <hirendition="#g">Ajax</hi><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[252/0278]
Die ſpäteren Heldenthaten des Herkules.
Vor allen Dingen machte er ſich auf den Weg, den
gewaltthätigen und eigenmächtigen König Laomedon, den
Erbauer und Beherrſcher Troja's, zu züchtigen. Denn
als Herkules, von dem Amazonenkampfe zurückkehrend, die
von dem Drachen bedrohte Tochter dieſes Fürſten, Heſione,
befreit hatte, hielt ihm der wortbrüchige Laomedon
den verſprochenen Lohn, die ſchnellen Marspferde, zurück,
und ließ ihn ſcheltend weiter ziehen. Jetzt nahm Herkules
nicht mehr als ſechs Schiffe und nur eine geringe Menge
Kriegsvolkes mit ſich. Aber unter dieſen waren die erſten
Helden Griechenlands, Peleus, Oïkleus, Telamon. Zu
dem Letztern war Herkules in ſeine Löwenhaut gekleidet
gekommen, und hatte ihn eben beim Schmauſe getroffen.
Telamon erhob ſich vom Tiſche, und reichte dem will¬
kommenen Gaſt eine goldne Schale voll Weines, hieß
ihn ſitzen und trinken. Freudig bewegt von ſolcher Gaſt¬
freundſchaft, hub Herkules die Hände gen Himmel und
betete: „Vater Jupiter, wenn du je meine Bitten gnädig
erhöret haſt, ſo flehe ich jetzt zu dir, daß du dem kinder¬
loſen Telamon hier einen kühnen Sohn zum Erben ver¬
leihen mögeſt, ſo unverwundbar, wie ich es in dieſer Haut
des nemeiſchen Löwen bin. Hoher Muth ſoll ihm immer
zur Seite ſeyn!“ Kaum hatte Herkules das Wort geredet,
ſo ſandte ihm der Gott den König der Vögel, einen mäch¬
tigen Adler. Dem Herkules lachte darüber das Herz im Leibe;
wie ein Wahrſager rief er begeiſtert aus: „Ja, Tela¬
mon, du wirſt den Sohn haben, den du begehrſt, herrlich
wird er ſeyn, wie dieſer gebieteriſche Adler, und Ajax
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/278>, abgerufen am 17.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.