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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
die ersteren sind wir noch weniger unterrichtet als über die letzteren. Ehe wir darauf
eingehen, seien zwei Vorbemerkungen gestattet, eine über die germanische Staatenbildung,
die andere über das Dorf- und Hofsystem.

Die kleinen germanischen Völkerschaften, noch nach Sippen gegliedert, hauptsächlich
für Viehweide und kriegerische Zwecke nach Hundertschaften geordnet, gingen aus dem
langen Kampfe mit Rom als große Völkerbünde mit einem bereits starken Königtum
hervor. Es gelang ihnen so relativ rasch, große agrarische Flächenstaaten mit starker
Kriegs- und einer der römischen nachgebildeten Staatsverfassung zu schaffen; die Ver-
waltung der römischen Kirche, der große Grundbesitz des Königs und der weltlichen wie
geistlichen Aristokratie schufen in wenigen Jahrhunderten ein Rückgrat für die neuen
Staatsgebilde, so daß in den gegenüber den Mittelmeerländern ärmeren, kälteren, viel-
fach gebirgigen Landen auch ohne Städte ein geordneter, relativ befestigter Staats- und
Wirtschaftszustand in der Zeit von 300 bis 1100 n. Chr. eingetreten ist.

Für die Frage, ob, wie frühe, in welcher Art neben der Wohnweise im Dorfe die
Einzelsiedlung, die Hofverfassung, entstanden sei, scheint es nötig, neben der wirtschaftlich-
technischen Seite der Frage wesentlich auf zwei wichtige mitwirkende Umstände hinzu-
weisen. Der Einzelhof, der inmitten seiner Grundstücke wirtschaftet, kürzt die Wege,
spart an Kosten, stellt einen geschlosseneren Wirtschaftskörper dar als die Bauernwirt-
schaft im Dorfe. Aber das sind Vorzüge, die nicht so leicht bei niedriger Kultur erkannt
werden und wirken können, und denen andere Nachteile für die verschiedensten Lebens-
zwecke entgegenstehen. Das isolierte Wohnen raubt primitiven Menschen die gewohnte
gesellige Umgebung, oft auch den Schutz; sie entschließen sich meist nur dazu, wo es
durch besondere natürliche Umstände oder durch die Not des Lebens geboten ist. Aber
zweierlei kann den Übergang erleichtern. Einmal wenn es sich nicht um eine einzelne
kleine Familie handelt, sondern um eine große patriarchalische mit einigen Dutzend
Menschen, wenn ein Herrenhof, ein Kloster mit 12--24 Brüdern, kurz etwas stärkere,
geschlossenere sociale Gebilde, die Einzelsiedlung vollziehen. Solche Organe haben auch
am frühesten Sinn für die wirtschaftlichen Vorteile der Sondersiedlung; sie verfügen
über große Viehherden, die isoliert leichter zu erhalten und zu nützen sind. Und dann
scheint es uns denkbar, daß ein anderer Umstand die Einzelsiedlung früher fördern kann,
wenn nämlich die Familien in fest organisierten herrschaftlichen oder genossenschaftlichen
Verbänden herkömmlich leben und an ihnen einen gewissen festen Rückhalt auch auf dem
Hofe behalten. Unter diesen Voraussetzungen können einzelne Kreise und Völker früher
zum Hofsystem kommen als sonst.

Haben wir damit schon die Kompliziertheit des Problems berührt, so werden wir
auch begreifen, daß bis heute eine volle Klarheit und unbestrittene wissenschaftliche
Überzeugung über den agrarischen Siedlungsprozeß der neueren europäischen Völker nicht
besteht. Wir haben die wichtigsten der von einander abweichenden Theorien kurz vor-
zuführen.

Möser und Kindlinger hatten im Geiste des 18. Jahrhunderts Einzelhöfe als das
Ursprüngliche hingestellt, aus denen erst viel später im Interesse des Schutzes Dörfer
und Städte entstanden seien. So sehr diese Annahme allem widerspricht, was wir heute
wissen, so ist doch zuzugeben, daß aus römischen Villen, auf früher romanischem Boden,
auch aus Fronhöfen und vereinzelten grundherrlichen und freien Bauernhöfen in späterer
Zeit mannigfach Dörfer hervorgingen, daß vom 11.--15. Jahrhundert oftmals Höfe,
Weiler und kleine Dörfer zu größeren Orten des Schutzes wegen zusammengelegt wurden,
wie auch die Städtebildung da und dort mit solcher Vereinigung verbunden war.

Nachdem die neuere Forschung die Feldgemeinschaft und das Dorfsystem ziemlich
allgemein als primitive Form des agrarischen Lebens der Kulturvölker aufgefunden hatte,
konnte Roscher den Möserschen Satz umkehren: das Hofsystem ist auf niederer Kultur-
stufe Ausnahme; wo man es fand, suchte man es wesentlich auf natürliche örtliche Ur-
sachen zurückzuführen; im Gebirgsthal, wo für Dörfer kein Platz ist, auf unfruchtbarem
Boden -- so hieß es -- entstanden die Höfe und die Weiler in späterer Zeit als die

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
die erſteren ſind wir noch weniger unterrichtet als über die letzteren. Ehe wir darauf
eingehen, ſeien zwei Vorbemerkungen geſtattet, eine über die germaniſche Staatenbildung,
die andere über das Dorf- und Hofſyſtem.

Die kleinen germaniſchen Völkerſchaften, noch nach Sippen gegliedert, hauptſächlich
für Viehweide und kriegeriſche Zwecke nach Hundertſchaften geordnet, gingen aus dem
langen Kampfe mit Rom als große Völkerbünde mit einem bereits ſtarken Königtum
hervor. Es gelang ihnen ſo relativ raſch, große agrariſche Flächenſtaaten mit ſtarker
Kriegs- und einer der römiſchen nachgebildeten Staatsverfaſſung zu ſchaffen; die Ver-
waltung der römiſchen Kirche, der große Grundbeſitz des Königs und der weltlichen wie
geiſtlichen Ariſtokratie ſchufen in wenigen Jahrhunderten ein Rückgrat für die neuen
Staatsgebilde, ſo daß in den gegenüber den Mittelmeerländern ärmeren, kälteren, viel-
fach gebirgigen Landen auch ohne Städte ein geordneter, relativ befeſtigter Staats- und
Wirtſchaftszuſtand in der Zeit von 300 bis 1100 n. Chr. eingetreten iſt.

Für die Frage, ob, wie frühe, in welcher Art neben der Wohnweiſe im Dorfe die
Einzelſiedlung, die Hofverfaſſung, entſtanden ſei, ſcheint es nötig, neben der wirtſchaftlich-
techniſchen Seite der Frage weſentlich auf zwei wichtige mitwirkende Umſtände hinzu-
weiſen. Der Einzelhof, der inmitten ſeiner Grundſtücke wirtſchaftet, kürzt die Wege,
ſpart an Koſten, ſtellt einen geſchloſſeneren Wirtſchaftskörper dar als die Bauernwirt-
ſchaft im Dorfe. Aber das ſind Vorzüge, die nicht ſo leicht bei niedriger Kultur erkannt
werden und wirken können, und denen andere Nachteile für die verſchiedenſten Lebens-
zwecke entgegenſtehen. Das iſolierte Wohnen raubt primitiven Menſchen die gewohnte
geſellige Umgebung, oft auch den Schutz; ſie entſchließen ſich meiſt nur dazu, wo es
durch beſondere natürliche Umſtände oder durch die Not des Lebens geboten iſt. Aber
zweierlei kann den Übergang erleichtern. Einmal wenn es ſich nicht um eine einzelne
kleine Familie handelt, ſondern um eine große patriarchaliſche mit einigen Dutzend
Menſchen, wenn ein Herrenhof, ein Kloſter mit 12—24 Brüdern, kurz etwas ſtärkere,
geſchloſſenere ſociale Gebilde, die Einzelſiedlung vollziehen. Solche Organe haben auch
am früheſten Sinn für die wirtſchaftlichen Vorteile der Sonderſiedlung; ſie verfügen
über große Viehherden, die iſoliert leichter zu erhalten und zu nützen ſind. Und dann
ſcheint es uns denkbar, daß ein anderer Umſtand die Einzelſiedlung früher fördern kann,
wenn nämlich die Familien in feſt organiſierten herrſchaftlichen oder genoſſenſchaftlichen
Verbänden herkömmlich leben und an ihnen einen gewiſſen feſten Rückhalt auch auf dem
Hofe behalten. Unter dieſen Vorausſetzungen können einzelne Kreiſe und Völker früher
zum Hofſyſtem kommen als ſonſt.

Haben wir damit ſchon die Kompliziertheit des Problems berührt, ſo werden wir
auch begreifen, daß bis heute eine volle Klarheit und unbeſtrittene wiſſenſchaftliche
Überzeugung über den agrariſchen Siedlungsprozeß der neueren europäiſchen Völker nicht
beſteht. Wir haben die wichtigſten der von einander abweichenden Theorien kurz vor-
zuführen.

Möſer und Kindlinger hatten im Geiſte des 18. Jahrhunderts Einzelhöfe als das
Urſprüngliche hingeſtellt, aus denen erſt viel ſpäter im Intereſſe des Schutzes Dörfer
und Städte entſtanden ſeien. So ſehr dieſe Annahme allem widerſpricht, was wir heute
wiſſen, ſo iſt doch zuzugeben, daß aus römiſchen Villen, auf früher romaniſchem Boden,
auch aus Fronhöfen und vereinzelten grundherrlichen und freien Bauernhöfen in ſpäterer
Zeit mannigfach Dörfer hervorgingen, daß vom 11.—15. Jahrhundert oftmals Höfe,
Weiler und kleine Dörfer zu größeren Orten des Schutzes wegen zuſammengelegt wurden,
wie auch die Städtebildung da und dort mit ſolcher Vereinigung verbunden war.

Nachdem die neuere Forſchung die Feldgemeinſchaft und das Dorfſyſtem ziemlich
allgemein als primitive Form des agrariſchen Lebens der Kulturvölker aufgefunden hatte,
konnte Roſcher den Möſerſchen Satz umkehren: das Hofſyſtem iſt auf niederer Kultur-
ſtufe Ausnahme; wo man es fand, ſuchte man es weſentlich auf natürliche örtliche Ur-
ſachen zurückzuführen; im Gebirgsthal, wo für Dörfer kein Platz iſt, auf unfruchtbarem
Boden — ſo hieß es — entſtanden die Höfe und die Weiler in ſpäterer Zeit als die

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[260/0276] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. die erſteren ſind wir noch weniger unterrichtet als über die letzteren. Ehe wir darauf eingehen, ſeien zwei Vorbemerkungen geſtattet, eine über die germaniſche Staatenbildung, die andere über das Dorf- und Hofſyſtem. Die kleinen germaniſchen Völkerſchaften, noch nach Sippen gegliedert, hauptſächlich für Viehweide und kriegeriſche Zwecke nach Hundertſchaften geordnet, gingen aus dem langen Kampfe mit Rom als große Völkerbünde mit einem bereits ſtarken Königtum hervor. Es gelang ihnen ſo relativ raſch, große agrariſche Flächenſtaaten mit ſtarker Kriegs- und einer der römiſchen nachgebildeten Staatsverfaſſung zu ſchaffen; die Ver- waltung der römiſchen Kirche, der große Grundbeſitz des Königs und der weltlichen wie geiſtlichen Ariſtokratie ſchufen in wenigen Jahrhunderten ein Rückgrat für die neuen Staatsgebilde, ſo daß in den gegenüber den Mittelmeerländern ärmeren, kälteren, viel- fach gebirgigen Landen auch ohne Städte ein geordneter, relativ befeſtigter Staats- und Wirtſchaftszuſtand in der Zeit von 300 bis 1100 n. Chr. eingetreten iſt. Für die Frage, ob, wie frühe, in welcher Art neben der Wohnweiſe im Dorfe die Einzelſiedlung, die Hofverfaſſung, entſtanden ſei, ſcheint es nötig, neben der wirtſchaftlich- techniſchen Seite der Frage weſentlich auf zwei wichtige mitwirkende Umſtände hinzu- weiſen. Der Einzelhof, der inmitten ſeiner Grundſtücke wirtſchaftet, kürzt die Wege, ſpart an Koſten, ſtellt einen geſchloſſeneren Wirtſchaftskörper dar als die Bauernwirt- ſchaft im Dorfe. Aber das ſind Vorzüge, die nicht ſo leicht bei niedriger Kultur erkannt werden und wirken können, und denen andere Nachteile für die verſchiedenſten Lebens- zwecke entgegenſtehen. Das iſolierte Wohnen raubt primitiven Menſchen die gewohnte geſellige Umgebung, oft auch den Schutz; ſie entſchließen ſich meiſt nur dazu, wo es durch beſondere natürliche Umſtände oder durch die Not des Lebens geboten iſt. Aber zweierlei kann den Übergang erleichtern. Einmal wenn es ſich nicht um eine einzelne kleine Familie handelt, ſondern um eine große patriarchaliſche mit einigen Dutzend Menſchen, wenn ein Herrenhof, ein Kloſter mit 12—24 Brüdern, kurz etwas ſtärkere, geſchloſſenere ſociale Gebilde, die Einzelſiedlung vollziehen. Solche Organe haben auch am früheſten Sinn für die wirtſchaftlichen Vorteile der Sonderſiedlung; ſie verfügen über große Viehherden, die iſoliert leichter zu erhalten und zu nützen ſind. Und dann ſcheint es uns denkbar, daß ein anderer Umſtand die Einzelſiedlung früher fördern kann, wenn nämlich die Familien in feſt organiſierten herrſchaftlichen oder genoſſenſchaftlichen Verbänden herkömmlich leben und an ihnen einen gewiſſen feſten Rückhalt auch auf dem Hofe behalten. Unter dieſen Vorausſetzungen können einzelne Kreiſe und Völker früher zum Hofſyſtem kommen als ſonſt. Haben wir damit ſchon die Kompliziertheit des Problems berührt, ſo werden wir auch begreifen, daß bis heute eine volle Klarheit und unbeſtrittene wiſſenſchaftliche Überzeugung über den agrariſchen Siedlungsprozeß der neueren europäiſchen Völker nicht beſteht. Wir haben die wichtigſten der von einander abweichenden Theorien kurz vor- zuführen. Möſer und Kindlinger hatten im Geiſte des 18. Jahrhunderts Einzelhöfe als das Urſprüngliche hingeſtellt, aus denen erſt viel ſpäter im Intereſſe des Schutzes Dörfer und Städte entſtanden ſeien. So ſehr dieſe Annahme allem widerſpricht, was wir heute wiſſen, ſo iſt doch zuzugeben, daß aus römiſchen Villen, auf früher romaniſchem Boden, auch aus Fronhöfen und vereinzelten grundherrlichen und freien Bauernhöfen in ſpäterer Zeit mannigfach Dörfer hervorgingen, daß vom 11.—15. Jahrhundert oftmals Höfe, Weiler und kleine Dörfer zu größeren Orten des Schutzes wegen zuſammengelegt wurden, wie auch die Städtebildung da und dort mit ſolcher Vereinigung verbunden war. Nachdem die neuere Forſchung die Feldgemeinſchaft und das Dorfſyſtem ziemlich allgemein als primitive Form des agrariſchen Lebens der Kulturvölker aufgefunden hatte, konnte Roſcher den Möſerſchen Satz umkehren: das Hofſyſtem iſt auf niederer Kultur- ſtufe Ausnahme; wo man es fand, ſuchte man es weſentlich auf natürliche örtliche Ur- ſachen zurückzuführen; im Gebirgsthal, wo für Dörfer kein Platz iſt, auf unfruchtbarem Boden — ſo hieß es — entſtanden die Höfe und die Weiler in ſpäterer Zeit als die

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/276>, abgerufen am 27.04.2024.