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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die wissenschaftliche Beobachtung.
Gültigkeit, erschöpfende Genauigkeit, extensive Vollständigkeit besitzen. Das einzelne soll
für sich und als Teil des Ganzen in seinen wahrnehmbaren Beziehungen zu diesem, im
Vergleich mit Ähnlichem und Verschiedenem beobachtet werden. Die wissenschaftliche
Fixierung der Beobachtung ist die Beschreibung; jede halbwegs brauchbare Beschreibung
setzt aber schon ein geordnetes System von Begriffen und die Kenntnis der bekannten
und festgestellten Formen und Kausalverhältnisse voraus.

Die volkswirtschaftliche Beobachtung hat es mit Handlungen der einzelnen und
der Gemeinschaften, mit den Motiven dazu, mit den Ergebnissen dieser Handlungen,
mit den socialen Formen und Verknüpfungen, die daraus entstehen, zu thun. Ihr dient
stets vereint innere und äußere Wahrnehmung. Die erstere giebt uns unmittelbare
Gewißheit über uns selbst und durch Vergleichung mit den Worten, Mienen und Hand-
lungen der anderen auch über diese. Die zweite führt uns von dem bunten Weltbilde
ein kleines Stückchen direkt vor, das durch die Kraft seiner Anschaulichkeit uns so
beherrscht, daß wir in all' unserem Denken davon abhängig bleiben, welches Stück der
Welt, hier der volkswirtschaftlichen Welt, wir selbst gesehen und erlebt. Die weitaus
größere Hälfte der Wahrnehmungen empfangen wir indirekt durch Erzählung, Lektüre,
Berichte aller Art. Das Maß von Phantasie und Kraft der Vorstellung, über welche
der einzelne verfügt, bedingt die Wirksamkeit dieser verblaßten, schemenhaften, indirekten
Bilder. Das Maß von Scharfsinn, Kritik, methodisch hiezu angeleitetem Verstande, das
dem einzelnen eigen ist, bedingt den richtigen oder falschen Gebrauch von diesen sekun-
dären Weltbildern. In der überlieferten Wissenschaft empfängt der einzelne eine syste-
matisch angeordnete, nach gewissen richtigen oder schiefen Gesichtspunkten zurecht gemachte,
teilweise zu farblosen Abstraktionen verflüchtigte Summe von Beobachtungsresultaten,
welche die große Menge gläubig hinnimmt, welche der Forscher stets von neuem wieder
prüft und ordnet.

Alle Beobachtung isoliert aus dem Chaos der Erscheinungen einen einzelnen Vor-
gang, um ihn für sich zu betrachten. Sie beruht stets auf Abstraktion; sie analysiert
einen Teilinhalt. Je kleiner er ist, je isolierter er sich darstellt, desto leichter ist das
Geschäft. Die relative Einfachheit der elementaren Naturvorgänge erleichtert auf dem Gebiete
der Naturwissenschaften die Beobachtung sehr; es kommt dazu, daß der Naturforscher es
in seiner Gewalt hat, die Umgebung, die mitwirkenden Ursachen beliebig zu ändern
d. h. zu experimentieren und so den Gegenstand von allen Seiten her leichter zu fassen.
Nicht bloß ist das bei volkswirtschaftlichen Erscheinungen häufig nicht möglich, sondern
diese sind stets -- auch in ihrer einfachsten Form -- sehr viel kompliziertere Gegenstände,
abhängig von den verschiedensten Ursachen, beeinflußt durch eine Reihe mitwirkender
Bedingungen. Nehmen wir eine Steigerung des Getreidepreises, des Lohnes, eine Kurs-
veränderung oder gar eine Handelskrisis, einen Fortschritt der Arbeitsteilung; fast
jeder solche Vorgang besteht aus Gefühlen, Motiven und Handlungen gewisser Gruppen
von Menschen, dann aus Massenthatsachen der Natur (z. B. einer Ernte) oder des
technischen Lebens (z. B. der Maschineneinführung), er ist beeinflußt von Sitten und
Einrichtungen, deren Ursachen weit auseinander liegen. Es handelt sich also stets oder
meist um die gleichzeitige Beobachtung von zeitlich und räumlich zerstreuten, aber in
sich zusammenhängenden Thatsachen. Und vollends wenn typische Formen des volks-
wirtschaftlichen Lebens, wie die Familienwirtschaft, die Unternehmung oder konkret eine
bestimmte Volkswirtschaft, ein Industriezweig beobachtet werden sollen, so steigert sich
die Schwierigkeit des Selbst- und des Richtigsehens, des Zusammenordnens von vielen
Beobachtungen außerordentlich. Die Möglichkeit von Fehlern liegt um so näher, je
größer, verzweigter, komplizierter die einzelne Erscheinung ist. Die an sich berechtigte
Vorschrift, einen zu untersuchenden Vorgang in seine kleinsten Teile aufzulösen, jeden
für sich zu beobachten und aus diesen Beobachtungen erst ein Gesamtergebnis zusammen-
zusetzen, ist nur unter besonders günstigen Umständen restlos durchzuführen. In der
Regel handelt es sich darum, aus gewissen, an einem Vorgang festgestellten sicheren
Daten die übrigen nicht oder nicht genügend beobachteten schließend zu ergänzen und
so sich ein Bild von dem Ganzen desselben zu machen; das geschieht unter dem Einflusse

Die wiſſenſchaftliche Beobachtung.
Gültigkeit, erſchöpfende Genauigkeit, extenſive Vollſtändigkeit beſitzen. Das einzelne ſoll
für ſich und als Teil des Ganzen in ſeinen wahrnehmbaren Beziehungen zu dieſem, im
Vergleich mit Ähnlichem und Verſchiedenem beobachtet werden. Die wiſſenſchaftliche
Fixierung der Beobachtung iſt die Beſchreibung; jede halbwegs brauchbare Beſchreibung
ſetzt aber ſchon ein geordnetes Syſtem von Begriffen und die Kenntnis der bekannten
und feſtgeſtellten Formen und Kauſalverhältniſſe voraus.

Die volkswirtſchaftliche Beobachtung hat es mit Handlungen der einzelnen und
der Gemeinſchaften, mit den Motiven dazu, mit den Ergebniſſen dieſer Handlungen,
mit den ſocialen Formen und Verknüpfungen, die daraus entſtehen, zu thun. Ihr dient
ſtets vereint innere und äußere Wahrnehmung. Die erſtere giebt uns unmittelbare
Gewißheit über uns ſelbſt und durch Vergleichung mit den Worten, Mienen und Hand-
lungen der anderen auch über dieſe. Die zweite führt uns von dem bunten Weltbilde
ein kleines Stückchen direkt vor, das durch die Kraft ſeiner Anſchaulichkeit uns ſo
beherrſcht, daß wir in all’ unſerem Denken davon abhängig bleiben, welches Stück der
Welt, hier der volkswirtſchaftlichen Welt, wir ſelbſt geſehen und erlebt. Die weitaus
größere Hälfte der Wahrnehmungen empfangen wir indirekt durch Erzählung, Lektüre,
Berichte aller Art. Das Maß von Phantaſie und Kraft der Vorſtellung, über welche
der einzelne verfügt, bedingt die Wirkſamkeit dieſer verblaßten, ſchemenhaften, indirekten
Bilder. Das Maß von Scharfſinn, Kritik, methodiſch hiezu angeleitetem Verſtande, das
dem einzelnen eigen iſt, bedingt den richtigen oder falſchen Gebrauch von dieſen ſekun-
dären Weltbildern. In der überlieferten Wiſſenſchaft empfängt der einzelne eine ſyſte-
matiſch angeordnete, nach gewiſſen richtigen oder ſchiefen Geſichtspunkten zurecht gemachte,
teilweiſe zu farbloſen Abſtraktionen verflüchtigte Summe von Beobachtungsreſultaten,
welche die große Menge gläubig hinnimmt, welche der Forſcher ſtets von neuem wieder
prüft und ordnet.

Alle Beobachtung iſoliert aus dem Chaos der Erſcheinungen einen einzelnen Vor-
gang, um ihn für ſich zu betrachten. Sie beruht ſtets auf Abſtraktion; ſie analyſiert
einen Teilinhalt. Je kleiner er iſt, je iſolierter er ſich darſtellt, deſto leichter iſt das
Geſchäft. Die relative Einfachheit der elementaren Naturvorgänge erleichtert auf dem Gebiete
der Naturwiſſenſchaften die Beobachtung ſehr; es kommt dazu, daß der Naturforſcher es
in ſeiner Gewalt hat, die Umgebung, die mitwirkenden Urſachen beliebig zu ändern
d. h. zu experimentieren und ſo den Gegenſtand von allen Seiten her leichter zu faſſen.
Nicht bloß iſt das bei volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen häufig nicht möglich, ſondern
dieſe ſind ſtets — auch in ihrer einfachſten Form — ſehr viel kompliziertere Gegenſtände,
abhängig von den verſchiedenſten Urſachen, beeinflußt durch eine Reihe mitwirkender
Bedingungen. Nehmen wir eine Steigerung des Getreidepreiſes, des Lohnes, eine Kurs-
veränderung oder gar eine Handelskriſis, einen Fortſchritt der Arbeitsteilung; faſt
jeder ſolche Vorgang beſteht aus Gefühlen, Motiven und Handlungen gewiſſer Gruppen
von Menſchen, dann aus Maſſenthatſachen der Natur (z. B. einer Ernte) oder des
techniſchen Lebens (z. B. der Maſchineneinführung), er iſt beeinflußt von Sitten und
Einrichtungen, deren Urſachen weit auseinander liegen. Es handelt ſich alſo ſtets oder
meiſt um die gleichzeitige Beobachtung von zeitlich und räumlich zerſtreuten, aber in
ſich zuſammenhängenden Thatſachen. Und vollends wenn typiſche Formen des volks-
wirtſchaftlichen Lebens, wie die Familienwirtſchaft, die Unternehmung oder konkret eine
beſtimmte Volkswirtſchaft, ein Induſtriezweig beobachtet werden ſollen, ſo ſteigert ſich
die Schwierigkeit des Selbſt- und des Richtigſehens, des Zuſammenordnens von vielen
Beobachtungen außerordentlich. Die Möglichkeit von Fehlern liegt um ſo näher, je
größer, verzweigter, komplizierter die einzelne Erſcheinung iſt. Die an ſich berechtigte
Vorſchrift, einen zu unterſuchenden Vorgang in ſeine kleinſten Teile aufzulöſen, jeden
für ſich zu beobachten und aus dieſen Beobachtungen erſt ein Geſamtergebnis zuſammen-
zuſetzen, iſt nur unter beſonders günſtigen Umſtänden reſtlos durchzuführen. In der
Regel handelt es ſich darum, aus gewiſſen, an einem Vorgang feſtgeſtellten ſicheren
Daten die übrigen nicht oder nicht genügend beobachteten ſchließend zu ergänzen und
ſo ſich ein Bild von dem Ganzen desſelben zu machen; das geſchieht unter dem Einfluſſe

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[101/0117] Die wiſſenſchaftliche Beobachtung. Gültigkeit, erſchöpfende Genauigkeit, extenſive Vollſtändigkeit beſitzen. Das einzelne ſoll für ſich und als Teil des Ganzen in ſeinen wahrnehmbaren Beziehungen zu dieſem, im Vergleich mit Ähnlichem und Verſchiedenem beobachtet werden. Die wiſſenſchaftliche Fixierung der Beobachtung iſt die Beſchreibung; jede halbwegs brauchbare Beſchreibung ſetzt aber ſchon ein geordnetes Syſtem von Begriffen und die Kenntnis der bekannten und feſtgeſtellten Formen und Kauſalverhältniſſe voraus. Die volkswirtſchaftliche Beobachtung hat es mit Handlungen der einzelnen und der Gemeinſchaften, mit den Motiven dazu, mit den Ergebniſſen dieſer Handlungen, mit den ſocialen Formen und Verknüpfungen, die daraus entſtehen, zu thun. Ihr dient ſtets vereint innere und äußere Wahrnehmung. Die erſtere giebt uns unmittelbare Gewißheit über uns ſelbſt und durch Vergleichung mit den Worten, Mienen und Hand- lungen der anderen auch über dieſe. Die zweite führt uns von dem bunten Weltbilde ein kleines Stückchen direkt vor, das durch die Kraft ſeiner Anſchaulichkeit uns ſo beherrſcht, daß wir in all’ unſerem Denken davon abhängig bleiben, welches Stück der Welt, hier der volkswirtſchaftlichen Welt, wir ſelbſt geſehen und erlebt. Die weitaus größere Hälfte der Wahrnehmungen empfangen wir indirekt durch Erzählung, Lektüre, Berichte aller Art. Das Maß von Phantaſie und Kraft der Vorſtellung, über welche der einzelne verfügt, bedingt die Wirkſamkeit dieſer verblaßten, ſchemenhaften, indirekten Bilder. Das Maß von Scharfſinn, Kritik, methodiſch hiezu angeleitetem Verſtande, das dem einzelnen eigen iſt, bedingt den richtigen oder falſchen Gebrauch von dieſen ſekun- dären Weltbildern. In der überlieferten Wiſſenſchaft empfängt der einzelne eine ſyſte- matiſch angeordnete, nach gewiſſen richtigen oder ſchiefen Geſichtspunkten zurecht gemachte, teilweiſe zu farbloſen Abſtraktionen verflüchtigte Summe von Beobachtungsreſultaten, welche die große Menge gläubig hinnimmt, welche der Forſcher ſtets von neuem wieder prüft und ordnet. Alle Beobachtung iſoliert aus dem Chaos der Erſcheinungen einen einzelnen Vor- gang, um ihn für ſich zu betrachten. Sie beruht ſtets auf Abſtraktion; ſie analyſiert einen Teilinhalt. Je kleiner er iſt, je iſolierter er ſich darſtellt, deſto leichter iſt das Geſchäft. Die relative Einfachheit der elementaren Naturvorgänge erleichtert auf dem Gebiete der Naturwiſſenſchaften die Beobachtung ſehr; es kommt dazu, daß der Naturforſcher es in ſeiner Gewalt hat, die Umgebung, die mitwirkenden Urſachen beliebig zu ändern d. h. zu experimentieren und ſo den Gegenſtand von allen Seiten her leichter zu faſſen. Nicht bloß iſt das bei volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen häufig nicht möglich, ſondern dieſe ſind ſtets — auch in ihrer einfachſten Form — ſehr viel kompliziertere Gegenſtände, abhängig von den verſchiedenſten Urſachen, beeinflußt durch eine Reihe mitwirkender Bedingungen. Nehmen wir eine Steigerung des Getreidepreiſes, des Lohnes, eine Kurs- veränderung oder gar eine Handelskriſis, einen Fortſchritt der Arbeitsteilung; faſt jeder ſolche Vorgang beſteht aus Gefühlen, Motiven und Handlungen gewiſſer Gruppen von Menſchen, dann aus Maſſenthatſachen der Natur (z. B. einer Ernte) oder des techniſchen Lebens (z. B. der Maſchineneinführung), er iſt beeinflußt von Sitten und Einrichtungen, deren Urſachen weit auseinander liegen. Es handelt ſich alſo ſtets oder meiſt um die gleichzeitige Beobachtung von zeitlich und räumlich zerſtreuten, aber in ſich zuſammenhängenden Thatſachen. Und vollends wenn typiſche Formen des volks- wirtſchaftlichen Lebens, wie die Familienwirtſchaft, die Unternehmung oder konkret eine beſtimmte Volkswirtſchaft, ein Induſtriezweig beobachtet werden ſollen, ſo ſteigert ſich die Schwierigkeit des Selbſt- und des Richtigſehens, des Zuſammenordnens von vielen Beobachtungen außerordentlich. Die Möglichkeit von Fehlern liegt um ſo näher, je größer, verzweigter, komplizierter die einzelne Erſcheinung iſt. Die an ſich berechtigte Vorſchrift, einen zu unterſuchenden Vorgang in ſeine kleinſten Teile aufzulöſen, jeden für ſich zu beobachten und aus dieſen Beobachtungen erſt ein Geſamtergebnis zuſammen- zuſetzen, iſt nur unter beſonders günſtigen Umſtänden reſtlos durchzuführen. In der Regel handelt es ſich darum, aus gewiſſen, an einem Vorgang feſtgeſtellten ſicheren Daten die übrigen nicht oder nicht genügend beobachteten ſchließend zu ergänzen und ſo ſich ein Bild von dem Ganzen desſelben zu machen; das geſchieht unter dem Einfluſſe

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/117>, abgerufen am 26.04.2024.