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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

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nichts weniger nöthig, als sich zu schämen. Man
bemüht sich das, was zu beschämen scheint, als
etwas, das gar nicht rührt, zu verachten, oder
dem, der Verdacht gegen einen hegen könnte,
fühlen zu lassen, daß er dadurch beleidige; man
verzieht die Mine zum Lächeln oder runzelt die
Stirn zum Zorn; man bleibt keck stehen, oder
dreht sich rasch und mit Heftigkeit um; man ant-
wortet, wenn der Verdacht geäußert wird, gar
nicht oder mit auffahrender Hitze; man vergießt
Thränen der Kränkung, oder bricht in Vorwürfe
über die Ungerechtigkeit des Andern aus; man
sucht spottend zu einem andern Thema hinüber-
zuhüpfen, oder bemüht sich durch eine lange, ge-
brochne und hergestotterte Deduction zu zeigen,
daß der Verdacht gar nicht treffen könne.

Eins indessen, sagt der schon öfter angezogne
Menschenkenner, bleibt dem Beschämten, auch
bey dem hartnäckigsten Verlangen, sich der Ver-
achtung zu erwehren, unmöglich: er kann in das
Auge des Andren keine freyen, zuversichtlichen
Blicke werfen. Schon, wo er nur noch Ver-
dacht hegt, und in den Minen des Andren erst
spähen will, wie er über ihn urtheile, und ob
seine Schwachheit ihm wirklich sichtbar gewor-
den; schon da ist sein Auge wie ein scheuer, im-
mer zur Flucht gefaßter Kundschafter, der seine
Gefahr, wenn er betreten würde, kennt, und

sich

nichts weniger noͤthig, als ſich zu ſchaͤmen. Man
bemuͤht ſich das, was zu beſchaͤmen ſcheint, als
etwas, das gar nicht ruͤhrt, zu verachten, oder
dem, der Verdacht gegen einen hegen koͤnnte,
fuͤhlen zu laſſen, daß er dadurch beleidige; man
verzieht die Mine zum Laͤcheln oder runzelt die
Stirn zum Zorn; man bleibt keck ſtehen, oder
dreht ſich raſch und mit Heftigkeit um; man ant-
wortet, wenn der Verdacht geaͤußert wird, gar
nicht oder mit auffahrender Hitze; man vergießt
Thraͤnen der Kraͤnkung, oder bricht in Vorwuͤrfe
uͤber die Ungerechtigkeit des Andern aus; man
ſucht ſpottend zu einem andern Thema hinuͤber-
zuhuͤpfen, oder bemuͤht ſich durch eine lange, ge-
brochne und hergeſtotterte Deduction zu zeigen,
daß der Verdacht gar nicht treffen koͤnne.

Eins indeſſen, ſagt der ſchon oͤfter angezogne
Menſchenkenner, bleibt dem Beſchaͤmten, auch
bey dem hartnaͤckigſten Verlangen, ſich der Ver-
achtung zu erwehren, unmoͤglich: er kann in das
Auge des Andren keine freyen, zuverſichtlichen
Blicke werfen. Schon, wo er nur noch Ver-
dacht hegt, und in den Minen des Andren erſt
ſpaͤhen will, wie er uͤber ihn urtheile, und ob
ſeine Schwachheit ihm wirklich ſichtbar gewor-
den; ſchon da iſt ſein Auge wie ein ſcheuer, im-
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[618/0334] nichts weniger noͤthig, als ſich zu ſchaͤmen. Man bemuͤht ſich das, was zu beſchaͤmen ſcheint, als etwas, das gar nicht ruͤhrt, zu verachten, oder dem, der Verdacht gegen einen hegen koͤnnte, fuͤhlen zu laſſen, daß er dadurch beleidige; man verzieht die Mine zum Laͤcheln oder runzelt die Stirn zum Zorn; man bleibt keck ſtehen, oder dreht ſich raſch und mit Heftigkeit um; man ant- wortet, wenn der Verdacht geaͤußert wird, gar nicht oder mit auffahrender Hitze; man vergießt Thraͤnen der Kraͤnkung, oder bricht in Vorwuͤrfe uͤber die Ungerechtigkeit des Andern aus; man ſucht ſpottend zu einem andern Thema hinuͤber- zuhuͤpfen, oder bemuͤht ſich durch eine lange, ge- brochne und hergeſtotterte Deduction zu zeigen, daß der Verdacht gar nicht treffen koͤnne. Eins indeſſen, ſagt der ſchon oͤfter angezogne Menſchenkenner, bleibt dem Beſchaͤmten, auch bey dem hartnaͤckigſten Verlangen, ſich der Ver- achtung zu erwehren, unmoͤglich: er kann in das Auge des Andren keine freyen, zuverſichtlichen Blicke werfen. Schon, wo er nur noch Ver- dacht hegt, und in den Minen des Andren erſt ſpaͤhen will, wie er uͤber ihn urtheile, und ob ſeine Schwachheit ihm wirklich ſichtbar gewor- den; ſchon da iſt ſein Auge wie ein ſcheuer, im- mer zur Flucht gefaßter Kundſchafter, der ſeine Gefahr, wenn er betreten wuͤrde, kennt, und ſich

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 618. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/334>, abgerufen am 26.04.2024.