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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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lungen von Gespenstern, Zaubereyen und ähnli-
chen Dingen, welche die Ammen und Wärterin-
nen den Kindern beybrachten, in das Ge-
dankensystem einfugen, und selbst dann noch nicht
ganz ohne Wirkung sind, wenn der Verstand sie
als falsch erkannt hat.

Auch hefte man seine Einbildungskraft nicht
zu fest auf gewisse Bilder, besonders wenn diese
mit einer Lieblingsleidenschaft des Herzens zusam-
menhängen. Denn diese weiß sie bey der Phan-
tasie so einzuschmeicheln, daß sie sich nicht gern
von ihnen trennt, sondern immerfort mit ihnen
tändelt: und so wie der Lügner, wenn er eine
Lüge öfters wiederhohlt, am Ende sie selbst für
Wahrheit hält, so werden auch Einbildungen,
wenn man sie zu lange nährt, zuletzt für Reali-
täten genommen.

Man halte daher seine Phantasie unter der
Disciplin des Verstandes, ohne ihr indeß Fesseln
anzulegen und sie zu unterdrücken. Sie ist die
belebende Kraft des Gemüths, ohne welche der
Verstand trocken, kalt und träge ist. Man näh-
re sie daher aus der Natur und schönen Kunst,
und tödte sie nicht durch ewige Beschäftigung mit
trocknem Buchstabenwerk, welche das Gedächtniß
überladet, den Verstand einseitig und die Ur-
theilskraft geistlos macht.

Der
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lungen von Geſpenſtern, Zaubereyen und aͤhnli-
chen Dingen, welche die Ammen und Waͤrterin-
nen den Kindern beybrachten, in das Ge-
dankenſyſtem einfugen, und ſelbſt dann noch nicht
ganz ohne Wirkung ſind, wenn der Verſtand ſie
als falſch erkannt hat.

Auch hefte man ſeine Einbildungskraft nicht
zu feſt auf gewiſſe Bilder, beſonders wenn dieſe
mit einer Lieblingsleidenſchaft des Herzens zuſam-
menhaͤngen. Denn dieſe weiß ſie bey der Phan-
taſie ſo einzuſchmeicheln, daß ſie ſich nicht gern
von ihnen trennt, ſondern immerfort mit ihnen
taͤndelt: und ſo wie der Luͤgner, wenn er eine
Luͤge oͤfters wiederhohlt, am Ende ſie ſelbſt fuͤr
Wahrheit haͤlt, ſo werden auch Einbildungen,
wenn man ſie zu lange naͤhrt, zuletzt fuͤr Reali-
taͤten genommen.

Man halte daher ſeine Phantaſie unter der
Diſciplin des Verſtandes, ohne ihr indeß Feſſeln
anzulegen und ſie zu unterdruͤcken. Sie iſt die
belebende Kraft des Gemuͤths, ohne welche der
Verſtand trocken, kalt und traͤge iſt. Man naͤh-
re ſie daher aus der Natur und ſchoͤnen Kunſt,
und toͤdte ſie nicht durch ewige Beſchaͤftigung mit
trocknem Buchſtabenwerk, welche das Gedaͤchtniß
uͤberladet, den Verſtand einſeitig und die Ur-
theilskraft geiſtlos macht.

Der
T 2
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[291/0315] lungen von Geſpenſtern, Zaubereyen und aͤhnli- chen Dingen, welche die Ammen und Waͤrterin- nen den Kindern beybrachten, in das Ge- dankenſyſtem einfugen, und ſelbſt dann noch nicht ganz ohne Wirkung ſind, wenn der Verſtand ſie als falſch erkannt hat. Auch hefte man ſeine Einbildungskraft nicht zu feſt auf gewiſſe Bilder, beſonders wenn dieſe mit einer Lieblingsleidenſchaft des Herzens zuſam- menhaͤngen. Denn dieſe weiß ſie bey der Phan- taſie ſo einzuſchmeicheln, daß ſie ſich nicht gern von ihnen trennt, ſondern immerfort mit ihnen taͤndelt: und ſo wie der Luͤgner, wenn er eine Luͤge oͤfters wiederhohlt, am Ende ſie ſelbſt fuͤr Wahrheit haͤlt, ſo werden auch Einbildungen, wenn man ſie zu lange naͤhrt, zuletzt fuͤr Reali- taͤten genommen. Man halte daher ſeine Phantaſie unter der Diſciplin des Verſtandes, ohne ihr indeß Feſſeln anzulegen und ſie zu unterdruͤcken. Sie iſt die belebende Kraft des Gemuͤths, ohne welche der Verſtand trocken, kalt und traͤge iſt. Man naͤh- re ſie daher aus der Natur und ſchoͤnen Kunſt, und toͤdte ſie nicht durch ewige Beſchaͤftigung mit trocknem Buchſtabenwerk, welche das Gedaͤchtniß uͤberladet, den Verſtand einſeitig und die Ur- theilskraft geiſtlos macht. Der T 2

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/315>, abgerufen am 26.04.2024.