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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840.

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Buch II. Rechtsverhältnisse. Kap. III. Entstehung und Untergang.
gen in Tönen zu bezeichnen vermag, welches meist im
zweyten oder dritten Lebensjahr anfängt; oder in dem hö-
heren Sinn, nach welchem die Sprache schon ein zusam-
menhängender Ausdruck verständiger Gedanken ist, und
also zugleich einen Fortschritt der Geistesentwicklung vor-
aussetzt und anzeigt. Die Römer nun haben den Aus-
druck in diesem letzten Sinn genommen, folglich auch der
Infantia eine weit größere Ausdehnung gegeben, als welche
aus dem ersten Sinn folgen würde (e). Daß sie über-
haupt das fari posse als Gränzpunkt annahmen, hatte
seinen Grund in der uralten Sitte, alle wichtigen Ge-
schäfte in feyerliche Formeln mündlicher Rede einzuklei-
den (f). Nun war ihre Meynung gar nicht, juristische
Handlungen dadurch herabzuwürdigen, daß man ein Kind
hätte gedankenlos unverstandene Worte nachsprechen las-
sen, welches oft auch bey einem Blödsinnigen bewirkt wer-
den könnte; vielmehr sollte der Knabe immer schon ver-
stehen, was er sagte, also mit Bewußtseyn sprechen, wenn
ihm auch vielleicht das Geschäft selbst, nach seinen Grün-

(e) Die erste Bedeutung der
Infantia (beschränkt auf die aller-
ersten Lebensjahre) wird verthei-
digt in einer Abhandlung von
Unterholzner, Zeitschrift für
geschichtl. Rechtswissenschaft B. 1
N. 3 S. 44--53. Eine gelehrte
Widerlegung findet sich in einer
Recension dieser Abhandlung, Hei-
delberger Jahrbücher Jahr 1815
S. 664--683.
(f) Das fari posse drückte also
zweyerley zugleich aus: diejenige
Verstandesentwicklung, welche sich
durch den verständigen Redege-
brauch kund giebt, und die Fä-
higkeit zu mündlichen Rechtsge-
schäften. Beides fällt zusammen,
und daher war der Ausdruck auch
auf diejenigen Rechtsgeschäfte an-
wendbar, wozu mündliche Rede
nicht gerade erfordert wurde, wie
die Consensualcontracte.

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
gen in Tönen zu bezeichnen vermag, welches meiſt im
zweyten oder dritten Lebensjahr anfängt; oder in dem hö-
heren Sinn, nach welchem die Sprache ſchon ein zuſam-
menhängender Ausdruck verſtändiger Gedanken iſt, und
alſo zugleich einen Fortſchritt der Geiſtesentwicklung vor-
ausſetzt und anzeigt. Die Römer nun haben den Aus-
druck in dieſem letzten Sinn genommen, folglich auch der
Infantia eine weit größere Ausdehnung gegeben, als welche
aus dem erſten Sinn folgen würde (e). Daß ſie über-
haupt das fari posse als Gränzpunkt annahmen, hatte
ſeinen Grund in der uralten Sitte, alle wichtigen Ge-
ſchäfte in feyerliche Formeln mündlicher Rede einzuklei-
den (f). Nun war ihre Meynung gar nicht, juriſtiſche
Handlungen dadurch herabzuwürdigen, daß man ein Kind
hätte gedankenlos unverſtandene Worte nachſprechen laſ-
ſen, welches oft auch bey einem Blödſinnigen bewirkt wer-
den könnte; vielmehr ſollte der Knabe immer ſchon ver-
ſtehen, was er ſagte, alſo mit Bewußtſeyn ſprechen, wenn
ihm auch vielleicht das Geſchäft ſelbſt, nach ſeinen Grün-

(e) Die erſte Bedeutung der
Infantia (beſchränkt auf die aller-
erſten Lebensjahre) wird verthei-
digt in einer Abhandlung von
Unterholzner, Zeitſchrift für
geſchichtl. Rechtswiſſenſchaft B. 1
N. 3 S. 44—53. Eine gelehrte
Widerlegung findet ſich in einer
Recenſion dieſer Abhandlung, Hei-
delberger Jahrbücher Jahr 1815
S. 664—683.
(f) Das fari posse drückte alſo
zweyerley zugleich aus: diejenige
Verſtandesentwicklung, welche ſich
durch den verſtändigen Redege-
brauch kund giebt, und die Fä-
higkeit zu mündlichen Rechtsge-
ſchäften. Beides fällt zuſammen,
und daher war der Ausdruck auch
auf diejenigen Rechtsgeſchäfte an-
wendbar, wozu mündliche Rede
nicht gerade erfordert wurde, wie
die Conſenſualcontracte.
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[30/0042] Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang. gen in Tönen zu bezeichnen vermag, welches meiſt im zweyten oder dritten Lebensjahr anfängt; oder in dem hö- heren Sinn, nach welchem die Sprache ſchon ein zuſam- menhängender Ausdruck verſtändiger Gedanken iſt, und alſo zugleich einen Fortſchritt der Geiſtesentwicklung vor- ausſetzt und anzeigt. Die Römer nun haben den Aus- druck in dieſem letzten Sinn genommen, folglich auch der Infantia eine weit größere Ausdehnung gegeben, als welche aus dem erſten Sinn folgen würde (e). Daß ſie über- haupt das fari posse als Gränzpunkt annahmen, hatte ſeinen Grund in der uralten Sitte, alle wichtigen Ge- ſchäfte in feyerliche Formeln mündlicher Rede einzuklei- den (f). Nun war ihre Meynung gar nicht, juriſtiſche Handlungen dadurch herabzuwürdigen, daß man ein Kind hätte gedankenlos unverſtandene Worte nachſprechen laſ- ſen, welches oft auch bey einem Blödſinnigen bewirkt wer- den könnte; vielmehr ſollte der Knabe immer ſchon ver- ſtehen, was er ſagte, alſo mit Bewußtſeyn ſprechen, wenn ihm auch vielleicht das Geſchäft ſelbſt, nach ſeinen Grün- (e) Die erſte Bedeutung der Infantia (beſchränkt auf die aller- erſten Lebensjahre) wird verthei- digt in einer Abhandlung von Unterholzner, Zeitſchrift für geſchichtl. Rechtswiſſenſchaft B. 1 N. 3 S. 44—53. Eine gelehrte Widerlegung findet ſich in einer Recenſion dieſer Abhandlung, Hei- delberger Jahrbücher Jahr 1815 S. 664—683. (f) Das fari posse drückte alſo zweyerley zugleich aus: diejenige Verſtandesentwicklung, welche ſich durch den verſtändigen Redege- brauch kund giebt, und die Fä- higkeit zu mündlichen Rechtsge- ſchäften. Beides fällt zuſammen, und daher war der Ausdruck auch auf diejenigen Rechtsgeſchäfte an- wendbar, wozu mündliche Rede nicht gerade erfordert wurde, wie die Conſenſualcontracte.

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/42>, abgerufen am 26.04.2024.