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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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den Mörder. Ihre Machtvollkommenheit erstreckt sich, in er-
weitertem Umfang, auf alle Mörder, auch ausserhalb der eigenen
Familie. Nur philosophisch-dichterische Reflexion hat sie zu
Helfern alles Rechtes in Himmel und auf Erden umgebildet.
Im Cultus und begrenzten Glauben der einzelnen Stadt bleiben
sie Beistände der Seelen Ermordeter. Aus altem Seelencult
ist diese Vorstellung so grässlicher Dämonen erwachsen; in Be-
rührung mit dem lebendig gebliebenen Seelencult hat sie selbst
sich lebendig erhalten. Und sieht man genau hin, so schimmert
noch durch die getrübte Ueberlieferung eine Spur davon durch,
dass die Erinys eines Ermordeten nichts anderes war als seine
eigene zürnende, sich selbst ihre Rache holende Seele, die erst
in späterer Umbildung zu einem, den Zorn der Seele vertre-
tenden Höllengeist geworden ist 1).

3.

Das ganze Verfahren bei Mordprocessen diente mehr noch
als dem Staate und seinen lebenden Bürgern der Befriedigung
unsichtbarer Gewalten, der beleidigten Seelen und ihrer dämoni-
schen Anwalte. Es war seiner Grundbedeutung nach ein reli-
giöser Act. So war auch mit der Ausführung des weltlichen
Urtheilsspruchs keineswegs Alles zu Ende. Bei seiner Rück-
kehr in's Vaterland bedurfte, nach der Verzeihung von Seiten
der Verwandten des Todten, der wegen unfreiwilligen Todt-
schlags Verurtheilte noch eines Zwiefachen: der Reinigung
und der Sühnung 2). Die Reinigung vom Blute des Er-
schlagenen, deren auch der sonst straflose Thäter einer gesetz-
lich erlaubten Tödtung bedarf 3), giebt den bis dahin als "unrein"
Betrachteten der sacralen Gemeinschaft in Staat und Familie

1) S. Anhang 16.
2) Dass bei phonos akousios, nach geschehener aidesis der Verwandten
des Todten, der Thäter sowohl der Reinigung als der Sühnung (des kathar-
mos und des ilasmos) bedurfte, deutet Demosthenes, Aristocr. 72. 73
durch den Doppelausdruck thusai kai katharthenai, osioun kai kathairesthai
an. (Vgl. Müller, Aesch. Eum. p. 144).
3) S. Philippi, Areop. u. Eph. 62.

den Mörder. Ihre Machtvollkommenheit erstreckt sich, in er-
weitertem Umfang, auf alle Mörder, auch ausserhalb der eigenen
Familie. Nur philosophisch-dichterische Reflexion hat sie zu
Helfern alles Rechtes in Himmel und auf Erden umgebildet.
Im Cultus und begrenzten Glauben der einzelnen Stadt bleiben
sie Beistände der Seelen Ermordeter. Aus altem Seelencult
ist diese Vorstellung so grässlicher Dämonen erwachsen; in Be-
rührung mit dem lebendig gebliebenen Seelencult hat sie selbst
sich lebendig erhalten. Und sieht man genau hin, so schimmert
noch durch die getrübte Ueberlieferung eine Spur davon durch,
dass die Erinys eines Ermordeten nichts anderes war als seine
eigene zürnende, sich selbst ihre Rache holende Seele, die erst
in späterer Umbildung zu einem, den Zorn der Seele vertre-
tenden Höllengeist geworden ist 1).

3.

Das ganze Verfahren bei Mordprocessen diente mehr noch
als dem Staate und seinen lebenden Bürgern der Befriedigung
unsichtbarer Gewalten, der beleidigten Seelen und ihrer dämoni-
schen Anwalte. Es war seiner Grundbedeutung nach ein reli-
giöser Act. So war auch mit der Ausführung des weltlichen
Urtheilsspruchs keineswegs Alles zu Ende. Bei seiner Rück-
kehr in’s Vaterland bedurfte, nach der Verzeihung von Seiten
der Verwandten des Todten, der wegen unfreiwilligen Todt-
schlags Verurtheilte noch eines Zwiefachen: der Reinigung
und der Sühnung 2). Die Reinigung vom Blute des Er-
schlagenen, deren auch der sonst straflose Thäter einer gesetz-
lich erlaubten Tödtung bedarf 3), giebt den bis dahin als „unrein“
Betrachteten der sacralen Gemeinschaft in Staat und Familie

1) S. Anhang 16.
2) Dass bei φόνος ἀκούσιος, nach geschehener αἴδεσις der Verwandten
des Todten, der Thäter sowohl der Reinigung als der Sühnung (des καϑαρ-
μός und des ἱλασμός) bedurfte, deutet Demosthenes, Aristocr. 72. 73
durch den Doppelausdruck ϑῦσαι καὶ καϑαρϑῆναι, ὁσιοῦν καὶ καϑαίρεσϑαι
an. (Vgl. Müller, Aesch. Eum. p. 144).
3) S. Philippi, Areop. u. Eph. 62.
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[247/0263] den Mörder. Ihre Machtvollkommenheit erstreckt sich, in er- weitertem Umfang, auf alle Mörder, auch ausserhalb der eigenen Familie. Nur philosophisch-dichterische Reflexion hat sie zu Helfern alles Rechtes in Himmel und auf Erden umgebildet. Im Cultus und begrenzten Glauben der einzelnen Stadt bleiben sie Beistände der Seelen Ermordeter. Aus altem Seelencult ist diese Vorstellung so grässlicher Dämonen erwachsen; in Be- rührung mit dem lebendig gebliebenen Seelencult hat sie selbst sich lebendig erhalten. Und sieht man genau hin, so schimmert noch durch die getrübte Ueberlieferung eine Spur davon durch, dass die Erinys eines Ermordeten nichts anderes war als seine eigene zürnende, sich selbst ihre Rache holende Seele, die erst in späterer Umbildung zu einem, den Zorn der Seele vertre- tenden Höllengeist geworden ist 1). 3. Das ganze Verfahren bei Mordprocessen diente mehr noch als dem Staate und seinen lebenden Bürgern der Befriedigung unsichtbarer Gewalten, der beleidigten Seelen und ihrer dämoni- schen Anwalte. Es war seiner Grundbedeutung nach ein reli- giöser Act. So war auch mit der Ausführung des weltlichen Urtheilsspruchs keineswegs Alles zu Ende. Bei seiner Rück- kehr in’s Vaterland bedurfte, nach der Verzeihung von Seiten der Verwandten des Todten, der wegen unfreiwilligen Todt- schlags Verurtheilte noch eines Zwiefachen: der Reinigung und der Sühnung 2). Die Reinigung vom Blute des Er- schlagenen, deren auch der sonst straflose Thäter einer gesetz- lich erlaubten Tödtung bedarf 3), giebt den bis dahin als „unrein“ Betrachteten der sacralen Gemeinschaft in Staat und Familie 1) S. Anhang 16. 2) Dass bei φόνος ἀκούσιος, nach geschehener αἴδεσις der Verwandten des Todten, der Thäter sowohl der Reinigung als der Sühnung (des καϑαρ- μός und des ἱλασμός) bedurfte, deutet Demosthenes, Aristocr. 72. 73 durch den Doppelausdruck ϑῦσαι καὶ καϑαρϑῆναι, ὁσιοῦν καὶ καϑαίρεσϑαι an. (Vgl. Müller, Aesch. Eum. p. 144). 3) S. Philippi, Areop. u. Eph. 62.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/263>, abgerufen am 21.11.2024.