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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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zurück, der ein Unreiner nicht nahen kann, ohne auch sie
zu beflecken. Die homerischen Gedichte wissen von einer
solchen religiösen Reinigung Blutbefleckter nichts 1). Sie er-
klärt sich aus den Vorstellungen einer späteren Zeit. Eher
könnte man glauben, dass die Gebräuche der Sühnung, in
hohem Alterthum entstanden, in homerischer Zeit nur ver-
dunkelt seien. Sie dienen, durch feierliche Opfer die zürnende
Seele und die Götter, die über ihr walten, zu versöhnen.

Die Handlungen der Reinigung und der Sühnung, jene
im Interesse des Staates und seiner Gottesdienste, diese als
letzte Beschwichtigung der gekränkten Unsichtbaren ausgeführt,
werden, wie sie in der Ausübung meist verbunden waren, so
in der Ueberlieferung vielfach vermischt; so dass eine ganz
strenge Scheidung sich nicht durchführen lässt. So viel wird
dennoch klar, dass die Gebräuche der nach Mordthaten noth-
wendigen Sühnung durchweg von derselben Art waren, wie
die im Cult der Unterirdischen üblichen 2). Und in der That

1) Es fehlen in Ilias und Odyssee nicht nur alle Beispiele von Mord-
reinigung, sondern auch die Voraussetzungen für eine solche. Der Mör-
der verkehrt frei, und ohne dass von ihm ausgehendes miasma befürchtet
wird, unter den Menschen. So namentlich in dem Falle des Theokly-
menos, Od. 15, 571--287. Dies hebt mit Recht Lobeck hervor, Agla-
oph.
301. K. O. Müllers Versuche, Mordreinigung dennoch als Sitte
homerischer Zeit nachzuweisen, sind misslungen. S. Nägelsbach, Hom.
Theol.
2 p. 293. -- Aelteste Beispiele von Mordreinigung in der Litteratur
(s. Lobeck 309): Reinigung des Achill vom Blute des Thersites in der
Aithiopis p. 33 Kink.; Weigerung des Neleus, den Herakles vom Morde
des Iphitos zu reinigen: Hesiod en katalogois, Schol. Il. B 336. -- My-
thische Beispiele von Mordreinigung in späteren Berichten: Lobeck, Agl.
968. 969.
2) Z. B. Darbringung von Kuchen, Opferguss einer weinlosen Spende,
Verbrennung der Opfergabe: so bei dem (dort vom katharmos deutlich
unterschiedenen) ilasmos in der Schilderung des Apoll. Rhod. Arg. 4,
712 ff. Aehnlich (weinlose Spende u. s. w.) in dem, uneigentlich kathar-
mos (466) genannten ilasmos der Eumeniden zu Kolonos, den der Chor
dem Oedipus anräth, Soph. O. C. 469 ff. Von den Sühnopfern darf
Niemand essen: Porphyr. abst. 2, 44. Sie werden ganz verbrannt: s.
Stengel, Jahrb. f. Phil. 1883 p. 369 ff. -- Erzklang wird angewendet
pros pasan aphosiosin kai apokatharsin: Apollodor. fr. 36 (so auch bei
Hekateopfern: Theokrit. 2, 36; zur Abwehr von Gespenstern: Lucian,

zurück, der ein Unreiner nicht nahen kann, ohne auch sie
zu beflecken. Die homerischen Gedichte wissen von einer
solchen religiösen Reinigung Blutbefleckter nichts 1). Sie er-
klärt sich aus den Vorstellungen einer späteren Zeit. Eher
könnte man glauben, dass die Gebräuche der Sühnung, in
hohem Alterthum entstanden, in homerischer Zeit nur ver-
dunkelt seien. Sie dienen, durch feierliche Opfer die zürnende
Seele und die Götter, die über ihr walten, zu versöhnen.

Die Handlungen der Reinigung und der Sühnung, jene
im Interesse des Staates und seiner Gottesdienste, diese als
letzte Beschwichtigung der gekränkten Unsichtbaren ausgeführt,
werden, wie sie in der Ausübung meist verbunden waren, so
in der Ueberlieferung vielfach vermischt; so dass eine ganz
strenge Scheidung sich nicht durchführen lässt. So viel wird
dennoch klar, dass die Gebräuche der nach Mordthaten noth-
wendigen Sühnung durchweg von derselben Art waren, wie
die im Cult der Unterirdischen üblichen 2). Und in der That

1) Es fehlen in Ilias und Odyssee nicht nur alle Beispiele von Mord-
reinigung, sondern auch die Voraussetzungen für eine solche. Der Mör-
der verkehrt frei, und ohne dass von ihm ausgehendes μίασμα befürchtet
wird, unter den Menschen. So namentlich in dem Falle des Theokly-
menos, Od. 15, 571—287. Dies hebt mit Recht Lobeck hervor, Agla-
oph.
301. K. O. Müllers Versuche, Mordreinigung dennoch als Sitte
homerischer Zeit nachzuweisen, sind misslungen. S. Nägelsbach, Hom.
Theol.
2 p. 293. — Aelteste Beispiele von Mordreinigung in der Litteratur
(s. Lobeck 309): Reinigung des Achill vom Blute des Thersites in der
Αἰϑιοπίς p. 33 Kink.; Weigerung des Neleus, den Herakles vom Morde
des Iphitos zu reinigen: Hesiod ἐν καταλόγοις, Schol. Il. B 336. — My-
thische Beispiele von Mordreinigung in späteren Berichten: Lobeck, Agl.
968. 969.
2) Z. B. Darbringung von Kuchen, Opferguss einer weinlosen Spende,
Verbrennung der Opfergabe: so bei dem (dort vom καϑαρμός deutlich
unterschiedenen) ἱλασμός in der Schilderung des Apoll. Rhod. Arg. 4,
712 ff. Aehnlich (weinlose Spende u. s. w.) in dem, uneigentlich καϑαρ-
μός (466) genannten ἱλασμός der Eumeniden zu Kolonos, den der Chor
dem Oedipus anräth, Soph. O. C. 469 ff. Von den Sühnopfern darf
Niemand essen: Porphyr. abst. 2, 44. Sie werden ganz verbrannt: s.
Stengel, Jahrb. f. Phil. 1883 p. 369 ff. — Erzklang wird angewendet
πρὸς πᾶσαν ἀφοσίωσιν καὶ ἀποκάϑαρσιν: Apollodor. fr. 36 (so auch bei
Hekateopfern: Theokrit. 2, 36; zur Abwehr von Gespenstern: Lucian,
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[248/0264] zurück, der ein Unreiner nicht nahen kann, ohne auch sie zu beflecken. Die homerischen Gedichte wissen von einer solchen religiösen Reinigung Blutbefleckter nichts 1). Sie er- klärt sich aus den Vorstellungen einer späteren Zeit. Eher könnte man glauben, dass die Gebräuche der Sühnung, in hohem Alterthum entstanden, in homerischer Zeit nur ver- dunkelt seien. Sie dienen, durch feierliche Opfer die zürnende Seele und die Götter, die über ihr walten, zu versöhnen. Die Handlungen der Reinigung und der Sühnung, jene im Interesse des Staates und seiner Gottesdienste, diese als letzte Beschwichtigung der gekränkten Unsichtbaren ausgeführt, werden, wie sie in der Ausübung meist verbunden waren, so in der Ueberlieferung vielfach vermischt; so dass eine ganz strenge Scheidung sich nicht durchführen lässt. So viel wird dennoch klar, dass die Gebräuche der nach Mordthaten noth- wendigen Sühnung durchweg von derselben Art waren, wie die im Cult der Unterirdischen üblichen 2). Und in der That 1) Es fehlen in Ilias und Odyssee nicht nur alle Beispiele von Mord- reinigung, sondern auch die Voraussetzungen für eine solche. Der Mör- der verkehrt frei, und ohne dass von ihm ausgehendes μίασμα befürchtet wird, unter den Menschen. So namentlich in dem Falle des Theokly- menos, Od. 15, 571—287. Dies hebt mit Recht Lobeck hervor, Agla- oph. 301. K. O. Müllers Versuche, Mordreinigung dennoch als Sitte homerischer Zeit nachzuweisen, sind misslungen. S. Nägelsbach, Hom. Theol.2 p. 293. — Aelteste Beispiele von Mordreinigung in der Litteratur (s. Lobeck 309): Reinigung des Achill vom Blute des Thersites in der Αἰϑιοπίς p. 33 Kink.; Weigerung des Neleus, den Herakles vom Morde des Iphitos zu reinigen: Hesiod ἐν καταλόγοις, Schol. Il. B 336. — My- thische Beispiele von Mordreinigung in späteren Berichten: Lobeck, Agl. 968. 969. 2) Z. B. Darbringung von Kuchen, Opferguss einer weinlosen Spende, Verbrennung der Opfergabe: so bei dem (dort vom καϑαρμός deutlich unterschiedenen) ἱλασμός in der Schilderung des Apoll. Rhod. Arg. 4, 712 ff. Aehnlich (weinlose Spende u. s. w.) in dem, uneigentlich καϑαρ- μός (466) genannten ἱλασμός der Eumeniden zu Kolonos, den der Chor dem Oedipus anräth, Soph. O. C. 469 ff. Von den Sühnopfern darf Niemand essen: Porphyr. abst. 2, 44. Sie werden ganz verbrannt: s. Stengel, Jahrb. f. Phil. 1883 p. 369 ff. — Erzklang wird angewendet πρὸς πᾶσαν ἀφοσίωσιν καὶ ἀποκάϑαρσιν: Apollodor. fr. 36 (so auch bei Hekateopfern: Theokrit. 2, 36; zur Abwehr von Gespenstern: Lucian,

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/264>, abgerufen am 21.11.2024.