Der sechzehnte Brief von Fräulein Clarissa Harlowe an Fr. Judith Norton.
Donnerstags, den 6ten Jul.
Jch sollte billig Jhren Kummer, sonderlich itzo, nicht vermehren - - Aber ich kann es nicht ändern, ich muß Jhnen, da Sie itzo meine einzige Freundinn sind, die meine Wunden lin- dert, eine neue Unruhe entdecken, die mich befal- len hat.
Jch hatte nur eine Freundinn in der Welt, außer Jhnen: und diese ist äußerst misvergnügt mit mir (*). Es ist ein großer Schmerz, auch nur auf einen Augenblick dem Tadel einer gelieb- ten Person unterworfen zu seyn: sonderlich wenn uns etwas beygemessen wird, das Ehre und Klugheit betrifft. Es giebt gewisse so zärtliche, so bedenkliche Punkte, wie Sie wissen, meine liebe Frau Norton, daß es schon einigermaßen eine Schande ist, wenn es nöthig scheint, sich desfalls zu rechtfertigen. Jn dem gegenwärtigen Falle ist mein Unglück, daß ich von einigen Begeben- heiten, die ich erklären soll, nicht anders, als durch Muthmaßung, Rechenschaft geben kann: so fein und listig hat die scheusliche Seele, welche mich
so
(*) Man sehe den folgenden Brief.
Der ſechzehnte Brief von Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fr. Judith Norton.
Donnerſtags, den 6ten Jul.
Jch ſollte billig Jhren Kummer, ſonderlich itzo, nicht vermehren ‒ ‒ Aber ich kann es nicht aͤndern, ich muß Jhnen, da Sie itzo meine einzige Freundinn ſind, die meine Wunden lin- dert, eine neue Unruhe entdecken, die mich befal- len hat.
Jch hatte nur eine Freundinn in der Welt, außer Jhnen: und dieſe iſt aͤußerſt misvergnuͤgt mit mir (*). Es iſt ein großer Schmerz, auch nur auf einen Augenblick dem Tadel einer gelieb- ten Perſon unterworfen zu ſeyn: ſonderlich wenn uns etwas beygemeſſen wird, das Ehre und Klugheit betrifft. Es giebt gewiſſe ſo zaͤrtliche, ſo bedenkliche Punkte, wie Sie wiſſen, meine liebe Frau Norton, daß es ſchon einigermaßen eine Schande iſt, wenn es noͤthig ſcheint, ſich desfalls zu rechtfertigen. Jn dem gegenwaͤrtigen Falle iſt mein Ungluͤck, daß ich von einigen Begeben- heiten, die ich erklaͤren ſoll, nicht anders, als durch Muthmaßung, Rechenſchaft geben kann: ſo fein und liſtig hat die ſcheusliche Seele, welche mich
ſo
(*) Man ſehe den folgenden Brief.
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Der ſechzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fr. Judith
Norton.
Donnerſtags, den 6ten Jul.
Jch ſollte billig Jhren Kummer, ſonderlich
itzo, nicht vermehren ‒ ‒ Aber ich kann es
nicht aͤndern, ich muß Jhnen, da Sie itzo meine
einzige Freundinn ſind, die meine Wunden lin-
dert, eine neue Unruhe entdecken, die mich befal-
len hat.
Jch hatte nur eine Freundinn in der Welt,
außer Jhnen: und dieſe iſt aͤußerſt misvergnuͤgt
mit mir (*). Es iſt ein großer Schmerz, auch
nur auf einen Augenblick dem Tadel einer gelieb-
ten Perſon unterworfen zu ſeyn: ſonderlich wenn
uns etwas beygemeſſen wird, das Ehre und
Klugheit betrifft. Es giebt gewiſſe ſo zaͤrtliche, ſo
bedenkliche Punkte, wie Sie wiſſen, meine liebe
Frau Norton, daß es ſchon einigermaßen eine
Schande iſt, wenn es noͤthig ſcheint, ſich desfalls
zu rechtfertigen. Jn dem gegenwaͤrtigen Falle
iſt mein Ungluͤck, daß ich von einigen Begeben-
heiten, die ich erklaͤren ſoll, nicht anders, als durch
Muthmaßung, Rechenſchaft geben kann: ſo fein
und liſtig hat die ſcheusliche Seele, welche mich
ſo
(*) Man ſehe den folgenden Brief.
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/78>, abgerufen am 30.12.2024.
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