Sie bedauren ihre Mutter: das thue ich nicht! ich bedaure keine Person, die es sich selbst ohnmög- lich macht ihre Tochter mütterl[i]cher Liebe oder Men- schen-Liebe zu erzeigen, um sich in dem Besitz einer so genannten Ruhe zu erhalten, die doch nicht lange währen kann, sondern durch jedes Lüftgen gestöret werden muß, ja die nicht einmahl den Nahmen der Ruhe verdienet.
Jch hasse alle Tyrannen, von welcher Art sie auch seyn mögen: allein gegen tyrannische Eltern habe ich den allergrössesten Widerwillen, denn diese müssen gar nicht wissen, was Mitleyden ist.
Jch wiederhole es nochmahls, ich bedaure keinen in der gantzen Familie. Jhre und meine Fräulein verdienet allein Mitleiden. Sie würde sich nicht in den Händen dieses Menschen besinden, wenn sie nie in den Händen der Jhrigen gewesen wäre: sie ist gantz unschuldig. Sie wissen noch nicht, wie die gantze Sache zusammen hängt. Wie? wenn ich Jhnen sagen könnte, daß sie gar nicht die Absicht ge- habt hat mit dem Menschen davon zu gehen. Doch dieses würde der Fräulein nichts helfen; es würde blos eine Anklage gegen die seyn, die sie so weit ge- trieben haben, und gegen den, der jetzt ihre eintzige Zuflucht ist. Jch verbleibe
Jhre aufrichtige Freundin und Dienerin Anna Howe.
Der neunte Brief von Frau Harlowe an Frau Norton.
Die
Sie bedauren ihre Mutter: das thue ich nicht! ich bedaure keine Perſon, die es ſich ſelbſt ohnmoͤg- lich macht ihre Tochter muͤtterl[i]cher Liebe oder Men- ſchen-Liebe zu erzeigen, um ſich in dem Beſitz einer ſo genannten Ruhe zu erhalten, die doch nicht lange waͤhren kann, ſondern durch jedes Luͤftgen geſtoͤret werden muß, ja die nicht einmahl den Nahmen der Ruhe verdienet.
Jch haſſe alle Tyrannen, von welcher Art ſie auch ſeyn moͤgen: allein gegen tyranniſche Eltern habe ich den allergroͤſſeſten Widerwillen, denn dieſe muͤſſen gar nicht wiſſen, was Mitleyden iſt.
Jch wiederhole es nochmahls, ich bedaure keinen in der gantzen Familie. Jhre und meine Fraͤulein verdienet allein Mitleiden. Sie wuͤrde ſich nicht in den Haͤnden dieſes Menſchen beſinden, wenn ſie nie in den Haͤnden der Jhrigen geweſen waͤre: ſie iſt gantz unſchuldig. Sie wiſſen noch nicht, wie die gantze Sache zuſammen haͤngt. Wie? wenn ich Jhnen ſagen koͤnnte, daß ſie gar nicht die Abſicht ge- habt hat mit dem Menſchen davon zu gehen. Doch dieſes wuͤrde der Fraͤulein nichts helfen; es wuͤrde blos eine Anklage gegen die ſeyn, die ſie ſo weit ge- trieben haben, und gegen den, der jetzt ihre eintzige Zuflucht iſt. Jch verbleibe
Jhre aufrichtige Freundin und Dienerin Anna Howe.
Der neunte Brief von Frau Harlowe an Frau Norton.
Die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0053"n="47"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Sie bedauren ihre Mutter: das thue ich nicht!<lb/>
ich bedaure keine Perſon, die es ſich ſelbſt ohnmoͤg-<lb/>
lich macht ihre Tochter muͤtterl<supplied>i</supplied>cher Liebe oder Men-<lb/>ſchen-Liebe zu erzeigen, um ſich in dem Beſitz einer<lb/>ſo genannten Ruhe zu erhalten, die doch nicht lange<lb/>
waͤhren kann, ſondern durch jedes Luͤftgen geſtoͤret<lb/>
werden muß, ja die nicht einmahl den Nahmen der<lb/>
Ruhe verdienet.</p><lb/><p>Jch haſſe alle Tyrannen, von welcher Art ſie auch<lb/>ſeyn moͤgen: allein gegen tyranniſche Eltern habe<lb/>
ich den allergroͤſſeſten Widerwillen, denn dieſe muͤſſen<lb/>
gar nicht wiſſen, was Mitleyden iſt.</p><lb/><p>Jch wiederhole es nochmahls, ich bedaure keinen<lb/>
in der gantzen Familie. Jhre und meine Fraͤulein<lb/>
verdienet allein Mitleiden. Sie wuͤrde ſich nicht<lb/>
in den Haͤnden dieſes Menſchen beſinden, wenn ſie<lb/>
nie in den Haͤnden der Jhrigen geweſen waͤre: ſie<lb/>
iſt gantz unſchuldig. Sie wiſſen noch nicht, wie<lb/>
die gantze Sache zuſammen haͤngt. Wie? wenn ich<lb/>
Jhnen ſagen koͤnnte, daß ſie gar nicht die Abſicht ge-<lb/>
habt hat mit dem Menſchen davon zu gehen. Doch<lb/>
dieſes wuͤrde der Fraͤulein nichts helfen; es wuͤrde<lb/>
blos eine Anklage gegen die ſeyn, die ſie ſo weit ge-<lb/>
trieben haben, und gegen den, der jetzt ihre eintzige<lb/>
Zuflucht iſt. Jch verbleibe</p><lb/><closer><salute><hirendition="#et">Jhre aufrichtige Freundin und Dienerin<lb/><hirendition="#fr">Anna Howe.</hi></hi></salute></closer></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="2"><head><hirendition="#fr">Der neunte Brief</hi><lb/>
von<lb/><hirendition="#fr">Frau Harlowe an Frau Norton.</hi></head><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#fr">Die</hi></fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[47/0053]
Sie bedauren ihre Mutter: das thue ich nicht!
ich bedaure keine Perſon, die es ſich ſelbſt ohnmoͤg-
lich macht ihre Tochter muͤtterlicher Liebe oder Men-
ſchen-Liebe zu erzeigen, um ſich in dem Beſitz einer
ſo genannten Ruhe zu erhalten, die doch nicht lange
waͤhren kann, ſondern durch jedes Luͤftgen geſtoͤret
werden muß, ja die nicht einmahl den Nahmen der
Ruhe verdienet.
Jch haſſe alle Tyrannen, von welcher Art ſie auch
ſeyn moͤgen: allein gegen tyranniſche Eltern habe
ich den allergroͤſſeſten Widerwillen, denn dieſe muͤſſen
gar nicht wiſſen, was Mitleyden iſt.
Jch wiederhole es nochmahls, ich bedaure keinen
in der gantzen Familie. Jhre und meine Fraͤulein
verdienet allein Mitleiden. Sie wuͤrde ſich nicht
in den Haͤnden dieſes Menſchen beſinden, wenn ſie
nie in den Haͤnden der Jhrigen geweſen waͤre: ſie
iſt gantz unſchuldig. Sie wiſſen noch nicht, wie
die gantze Sache zuſammen haͤngt. Wie? wenn ich
Jhnen ſagen koͤnnte, daß ſie gar nicht die Abſicht ge-
habt hat mit dem Menſchen davon zu gehen. Doch
dieſes wuͤrde der Fraͤulein nichts helfen; es wuͤrde
blos eine Anklage gegen die ſeyn, die ſie ſo weit ge-
trieben haben, und gegen den, der jetzt ihre eintzige
Zuflucht iſt. Jch verbleibe
Jhre aufrichtige Freundin und Dienerin
Anna Howe.
Der neunte Brief
von
Frau Harlowe an Frau Norton.
Die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/53>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.