Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite


Mein Herr,

Jch glaube zwar, daß es sonst bey unserm Ge-
schlecht ungewöhnlich ist, den ersten Brief
von der bewußten Art mit Dinte und Feder zu
beantworten. Den ersten Brief, sage ich?
Wie wunderlich ist das! Gerade als wenn ich ei-
nen zweiten Brief erwartete: davon ich doch weit
entfernet bin. Allein da ich auf Jhren Brief
nicht so antworten kann, wie Sie es wünschen,
so halte ich mich dennoch verpflichtet, Jhre Höf-
lichkeit mit Gegenhöflichkeit zu erwiedern. Jch
bin immer der Meinung gewesen, daß wir einer
Person deswegen nicht übel begegnen müssen, weil
sie uns hochschätzet, und das ist es, was ich mei-
ner Tochter so oft gesaget habe.

Die Frau, die als Braut tyrannisch mit ih-
rem Freyer umgegangen ist, wird doch hernach
in ihres Mannes Augen wenig geachtet seyn, und
ihrem Geschlecht zu geringer Ehre gereichen.

Wenn ich gewillet wäre, mich zu verändern,
so würde mir keine Parthey angenehmer seyn, als
Sie. Jhres Bruders Kinder haben ohnehin
genug, wenn Sie ihnen auch nichts vermachten:
und meine Tochter hat schon ohne mich schöne
Mittel, und ich würde sie dennoch bey leben oder
sterben reichlich bedencken, wenn ich wich wieder
verheyrathete. Es würde also niemand hievon
Schaden haben, ob gleich Aennichen es nicht
glaubet.

Aller


Mein Herr,

Jch glaube zwar, daß es ſonſt bey unſerm Ge-
ſchlecht ungewoͤhnlich iſt, den erſten Brief
von der bewußten Art mit Dinte und Feder zu
beantworten. Den erſten Brief, ſage ich?
Wie wunderlich iſt das! Gerade als wenn ich ei-
nen zweiten Brief erwartete: davon ich doch weit
entfernet bin. Allein da ich auf Jhren Brief
nicht ſo antworten kann, wie Sie es wuͤnſchen,
ſo halte ich mich dennoch verpflichtet, Jhre Hoͤf-
lichkeit mit Gegenhoͤflichkeit zu erwiedern. Jch
bin immer der Meinung geweſen, daß wir einer
Perſon deswegen nicht uͤbel begegnen muͤſſen, weil
ſie uns hochſchaͤtzet, und das iſt es, was ich mei-
ner Tochter ſo oft geſaget habe.

Die Frau, die als Braut tyranniſch mit ih-
rem Freyer umgegangen iſt, wird doch hernach
in ihres Mannes Augen wenig geachtet ſeyn, und
ihrem Geſchlecht zu geringer Ehre gereichen.

Wenn ich gewillet waͤre, mich zu veraͤndern,
ſo wuͤrde mir keine Parthey angenehmer ſeyn, als
Sie. Jhres Bruders Kinder haben ohnehin
genug, wenn Sie ihnen auch nichts vermachten:
und meine Tochter hat ſchon ohne mich ſchoͤne
Mittel, und ich wuͤrde ſie dennoch bey leben oder
ſterben reichlich bedencken, wenn ich wich wieder
verheyrathete. Es wuͤrde alſo niemand hievon
Schaden haben, ob gleich Aennichen es nicht
glaubet.

Aller
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0193" n="187"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div>
          <salute> <hi rendition="#et"> <hi rendition="#fr">Mein Herr,</hi> </hi> </salute><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Freytags den 10ten May.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">J</hi>ch glaube zwar, daß es &#x017F;on&#x017F;t bey un&#x017F;erm Ge-<lb/>
&#x017F;chlecht ungewo&#x0364;hnlich i&#x017F;t, den er&#x017F;ten Brief<lb/>
von der bewußten Art mit Dinte und Feder zu<lb/>
beantworten. <hi rendition="#fr">Den er&#x017F;ten Brief,</hi> &#x017F;age ich?<lb/>
Wie wunderlich i&#x017F;t das! Gerade als wenn ich ei-<lb/>
nen zweiten Brief erwartete: davon ich doch weit<lb/>
entfernet bin. Allein da ich auf Jhren Brief<lb/>
nicht &#x017F;o antworten kann, wie Sie es wu&#x0364;n&#x017F;chen,<lb/>
&#x017F;o halte ich mich dennoch verpflichtet, Jhre Ho&#x0364;f-<lb/>
lichkeit mit Gegenho&#x0364;flichkeit zu erwiedern. Jch<lb/>
bin immer der Meinung gewe&#x017F;en, daß wir einer<lb/>
Per&#x017F;on deswegen nicht u&#x0364;bel begegnen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, weil<lb/>
&#x017F;ie uns hoch&#x017F;cha&#x0364;tzet, und das i&#x017F;t es, was ich mei-<lb/>
ner Tochter &#x017F;o oft ge&#x017F;aget habe.</p><lb/>
          <p>Die Frau, die als Braut tyranni&#x017F;ch mit ih-<lb/>
rem Freyer umgegangen i&#x017F;t, wird doch hernach<lb/>
in ihres Mannes Augen wenig geachtet &#x017F;eyn, und<lb/>
ihrem Ge&#x017F;chlecht zu geringer Ehre gereichen.</p><lb/>
          <p>Wenn ich gewillet wa&#x0364;re, mich zu vera&#x0364;ndern,<lb/>
&#x017F;o wu&#x0364;rde mir keine Parthey angenehmer &#x017F;eyn, als<lb/>
Sie. Jhres Bruders Kinder haben ohnehin<lb/>
genug, wenn Sie ihnen auch nichts vermachten:<lb/>
und meine Tochter hat &#x017F;chon ohne mich &#x017F;cho&#x0364;ne<lb/>
Mittel, und ich wu&#x0364;rde &#x017F;ie dennoch bey leben oder<lb/>
&#x017F;terben reichlich bedencken, wenn ich wich wieder<lb/>
verheyrathete. Es wu&#x0364;rde al&#x017F;o niemand hievon<lb/>
Schaden haben, ob gleich Aennichen es nicht<lb/>
glaubet.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Aller</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[187/0193] Mein Herr, Freytags den 10ten May. Jch glaube zwar, daß es ſonſt bey unſerm Ge- ſchlecht ungewoͤhnlich iſt, den erſten Brief von der bewußten Art mit Dinte und Feder zu beantworten. Den erſten Brief, ſage ich? Wie wunderlich iſt das! Gerade als wenn ich ei- nen zweiten Brief erwartete: davon ich doch weit entfernet bin. Allein da ich auf Jhren Brief nicht ſo antworten kann, wie Sie es wuͤnſchen, ſo halte ich mich dennoch verpflichtet, Jhre Hoͤf- lichkeit mit Gegenhoͤflichkeit zu erwiedern. Jch bin immer der Meinung geweſen, daß wir einer Perſon deswegen nicht uͤbel begegnen muͤſſen, weil ſie uns hochſchaͤtzet, und das iſt es, was ich mei- ner Tochter ſo oft geſaget habe. Die Frau, die als Braut tyranniſch mit ih- rem Freyer umgegangen iſt, wird doch hernach in ihres Mannes Augen wenig geachtet ſeyn, und ihrem Geſchlecht zu geringer Ehre gereichen. Wenn ich gewillet waͤre, mich zu veraͤndern, ſo wuͤrde mir keine Parthey angenehmer ſeyn, als Sie. Jhres Bruders Kinder haben ohnehin genug, wenn Sie ihnen auch nichts vermachten: und meine Tochter hat ſchon ohne mich ſchoͤne Mittel, und ich wuͤrde ſie dennoch bey leben oder ſterben reichlich bedencken, wenn ich wich wieder verheyrathete. Es wuͤrde alſo niemand hievon Schaden haben, ob gleich Aennichen es nicht glaubet. Aller

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/193
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/193>, abgerufen am 21.12.2024.