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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775.

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"wir Gott wohlgefällig werden wollen, so müssen wir
"nichts als lauter Elend und Unwürdigkeit an uns
"sehen:
,Wollt ihr zu Jesu Heerden,
"So müßt ihr gottlos werden!
"Daß heist, ihr müßt die Sünden
"Erkennen und empfinden.'
,wie ein theurer Knecht Gottes singet. Wir müssen
"an der Gnade hangen, die Gnade alles wirken
"lassen, der Gnade alles Gute zuschreiben; denn
"wird die Gnade in uns erst recht groß, wenn wir
"recht klein, recht unwürdig werden.'

,Wenn wir uns mit den Siechen
"Jns Lazareth verkreichen!'

Sebaldus zuckte die Achseln, und sagte: ,Dieß sind
"gesalbte Schalle, die einer verderbten Einbildungs-
"kraft heilig scheinen, die aber keinen Sinn enthal-
"ten. Wir besitzen Kräfte zum gutem. Wer dieß
"läugnen wollte, würde Gottes Schöpfung schänden,
"der uns so viele Vollkommenheiten gegeben hat. Ohne
"den Einfluß einer übernatürlich wirkenden Gnade zu
"erwarten, können wir Tugenden und edle Thaten
"ausüben. Oder sind etwan Wohlwollen, Men-
"schenliebe, Freundschaft, Großmuth, Mitleiden,
"Dankbarkeit nicht Tugenden?

*)
"Schein-
*) Woltersdorfs sämtliche neue Lieder. Berlin 1768. S. 37.



”wir Gott wohlgefaͤllig werden wollen, ſo muͤſſen wir
”nichts als lauter Elend und Unwuͤrdigkeit an uns
”ſehen:
‚Wollt ihr zu Jeſu Heerden,
”So muͤßt ihr gottlos werden!
”Daß heiſt, ihr muͤßt die Suͤnden
”Erkennen und empfinden.‛
‚wie ein theurer Knecht Gottes ſinget. Wir muͤſſen
”an der Gnade hangen, die Gnade alles wirken
”laſſen, der Gnade alles Gute zuſchreiben; denn
”wird die Gnade in uns erſt recht groß, wenn wir
”recht klein, recht unwuͤrdig werden.‛

‚Wenn wir uns mit den Siechen
”Jns Lazareth verkreichen!‛

Sebaldus zuckte die Achſeln, und ſagte: ‚Dieß ſind
”geſalbte Schalle, die einer verderbten Einbildungs-
”kraft heilig ſcheinen, die aber keinen Sinn enthal-
”ten. Wir beſitzen Kraͤfte zum gutem. Wer dieß
”laͤugnen wollte, wuͤrde Gottes Schoͤpfung ſchaͤnden,
”der uns ſo viele Vollkommenheiten gegeben hat. Ohne
”den Einfluß einer uͤbernatuͤrlich wirkenden Gnade zu
”erwarten, koͤnnen wir Tugenden und edle Thaten
”ausuͤben. Oder ſind etwan Wohlwollen, Men-
”ſchenliebe, Freundſchaft, Großmuth, Mitleiden,
”Dankbarkeit nicht Tugenden?

*)
”Schein-
*) Woltersdorfs ſämtliche neue Lieder. Berlin 1768. S. 37.
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[6/0010] ”wir Gott wohlgefaͤllig werden wollen, ſo muͤſſen wir ”nichts als lauter Elend und Unwuͤrdigkeit an uns ”ſehen: ‚Wollt ihr zu Jeſu Heerden, ”So muͤßt ihr gottlos werden! ”Daß heiſt, ihr muͤßt die Suͤnden ”Erkennen und empfinden.‛ ‚wie ein theurer Knecht Gottes ſinget. Wir muͤſſen ”an der Gnade hangen, die Gnade alles wirken ”laſſen, der Gnade alles Gute zuſchreiben; denn ”wird die Gnade in uns erſt recht groß, wenn wir ”recht klein, recht unwuͤrdig werden.‛ ‚Wenn wir uns mit den Siechen ”Jns Lazareth verkreichen!‛ Sebaldus zuckte die Achſeln, und ſagte: ‚Dieß ſind ”geſalbte Schalle, die einer verderbten Einbildungs- ”kraft heilig ſcheinen, die aber keinen Sinn enthal- ”ten. Wir beſitzen Kraͤfte zum gutem. Wer dieß ”laͤugnen wollte, wuͤrde Gottes Schoͤpfung ſchaͤnden, ”der uns ſo viele Vollkommenheiten gegeben hat. Ohne ”den Einfluß einer uͤbernatuͤrlich wirkenden Gnade zu ”erwarten, koͤnnen wir Tugenden und edle Thaten ”ausuͤben. Oder ſind etwan Wohlwollen, Men- ”ſchenliebe, Freundſchaft, Großmuth, Mitleiden, ”Dankbarkeit nicht Tugenden? ”Schein- *) *) Woltersdorfs ſämtliche neue Lieder. Berlin 1768. S. 37.

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Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/10>, abgerufen am 27.04.2024.