Wie nützlich, wie lehrreich so wohl für das Herz als den Verstand ist also nicht die jetzige Theurung? Die gütige Vor- sicht scheint es mit Fleiß so geordnet zu haben, daß dergleichen wenigstens eine in jedes Menschen Alter fallen muß. Ohne diese Erweckung würden viele ein sehr dummes Leben führen. Zwar giebt sich der feinere Theil der Menschen Mühe genug, häufigere Strafen des Himmels zu verdienen, und wenn er hieran nicht genug hat, sich selbst zu quälen. Allein dessen Ge- fühl bedarf auch der wenigsten Erweckungen; und der Himmel braucht eben kein Land zu strafen, um einige wenige Thoren zu züchtigen. Zu groß oder zu fühllos, um bey einem allge- meinen Unglück zu leiden, überläßt er sie ihrer marternden Einbildung.
VI. Die liebenswürdige Kokette oder Schreiben einer Dame vom Lande.
Lachen Sie nicht mein Schatz, wenn ich Ihnen sage, daß ich im Ernst anfange kokett zu werden. Seit einem hal- ben Jahre, daß ich jetzt wieder auf dem Lande bin, und täg- lich eine Menge von Armen und Elenden sehe, thue ich fast nichts als Herzen rühren, Thränen erwecken, entzücken und bezaubern. Den will ich einmal recht heulen lassen, sagte ich gestern zu meinem Manne, der gar nicht wußte was ich wollte, und flog auf den Platz, um einen alten armen Mann der küm- merlich nach meinem Fenster sahe, selbst zu sprechen. Ich hörte ihm recht freundschaftlich zu, fragte nach allen kleinen Umständen die ihn drückten, beklagte ihn bey jeder Stuffe sei-
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der Landplagen.
Wie nuͤtzlich, wie lehrreich ſo wohl fuͤr das Herz als den Verſtand iſt alſo nicht die jetzige Theurung? Die guͤtige Vor- ſicht ſcheint es mit Fleiß ſo geordnet zu haben, daß dergleichen wenigſtens eine in jedes Menſchen Alter fallen muß. Ohne dieſe Erweckung wuͤrden viele ein ſehr dummes Leben fuͤhren. Zwar giebt ſich der feinere Theil der Menſchen Muͤhe genug, haͤufigere Strafen des Himmels zu verdienen, und wenn er hieran nicht genug hat, ſich ſelbſt zu quaͤlen. Allein deſſen Ge- fuͤhl bedarf auch der wenigſten Erweckungen; und der Himmel braucht eben kein Land zu ſtrafen, um einige wenige Thoren zu zuͤchtigen. Zu groß oder zu fuͤhllos, um bey einem allge- meinen Ungluͤck zu leiden, uͤberlaͤßt er ſie ihrer marternden Einbildung.
VI. Die liebenswuͤrdige Kokette oder Schreiben einer Dame vom Lande.
Lachen Sie nicht mein Schatz, wenn ich Ihnen ſage, daß ich im Ernſt anfange kokett zu werden. Seit einem hal- ben Jahre, daß ich jetzt wieder auf dem Lande bin, und taͤg- lich eine Menge von Armen und Elenden ſehe, thue ich faſt nichts als Herzen ruͤhren, Thraͤnen erwecken, entzuͤcken und bezaubern. Den will ich einmal recht heulen laſſen, ſagte ich geſtern zu meinem Manne, der gar nicht wußte was ich wollte, und flog auf den Platz, um einen alten armen Mann der kuͤm- merlich nach meinem Fenſter ſahe, ſelbſt zu ſprechen. Ich hoͤrte ihm recht freundſchaftlich zu, fragte nach allen kleinen Umſtaͤnden die ihn druͤckten, beklagte ihn bey jeder Stuffe ſei-
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der Landplagen.
Wie nuͤtzlich, wie lehrreich ſo wohl fuͤr das Herz als den
Verſtand iſt alſo nicht die jetzige Theurung? Die guͤtige Vor-
ſicht ſcheint es mit Fleiß ſo geordnet zu haben, daß dergleichen
wenigſtens eine in jedes Menſchen Alter fallen muß. Ohne
dieſe Erweckung wuͤrden viele ein ſehr dummes Leben fuͤhren.
Zwar giebt ſich der feinere Theil der Menſchen Muͤhe genug,
haͤufigere Strafen des Himmels zu verdienen, und wenn er
hieran nicht genug hat, ſich ſelbſt zu quaͤlen. Allein deſſen Ge-
fuͤhl bedarf auch der wenigſten Erweckungen; und der Himmel
braucht eben kein Land zu ſtrafen, um einige wenige Thoren
zu zuͤchtigen. Zu groß oder zu fuͤhllos, um bey einem allge-
meinen Ungluͤck zu leiden, uͤberlaͤßt er ſie ihrer marternden
Einbildung.
VI.
Die liebenswuͤrdige Kokette oder Schreiben
einer Dame vom Lande.
Lachen Sie nicht mein Schatz, wenn ich Ihnen ſage, daß
ich im Ernſt anfange kokett zu werden. Seit einem hal-
ben Jahre, daß ich jetzt wieder auf dem Lande bin, und taͤg-
lich eine Menge von Armen und Elenden ſehe, thue ich faſt
nichts als Herzen ruͤhren, Thraͤnen erwecken, entzuͤcken und
bezaubern. Den will ich einmal recht heulen laſſen, ſagte ich
geſtern zu meinem Manne, der gar nicht wußte was ich wollte,
und flog auf den Platz, um einen alten armen Mann der kuͤm-
merlich nach meinem Fenſter ſahe, ſelbſt zu ſprechen. Ich
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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/55>, abgerufen am 30.12.2024.
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