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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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nen. Jn allen jungen Herzen stieg der Wunsch
auf, auch ins Kloster zu gehen. Sophie saß, im
Jnnersten bewegt, da; jeder Ton drang ihr ans
Herz; sie war auf dem Scheideweg zwischen Him-
mel und Erde; hier das Kloster, das ihr lieber
Jüngling mit aller Stärke der Beredsamkeit, und
dem Zauber des Gesangs abschilderte -- dort
die Welt und Er, der reizende und sanfte Jüngling
selbst. Jhr Herz ward zerrissen; endlich hub die
Stärke der Musik sie über alles weg; und als
Thomas über alle Ueberredungen und Hindernisse
siegte, riß auch sie sich von allem los, und flog in
ihrem Geist dem Kloster und dem Himmel zu.
Drey oder vier Wochen darauf gieng sie, ungeach-
tet aller Bitten ihrer Eltern als Novize ins Klo-
ster. Den Tag vorher nahm sie noch von Sieg-
wart Abschied. Sie hatte ein schneeweisses Kleid
mit schwarzen Schleifen an. Jch bin eine Braut
des Himmels und des Todes, sagte sie. Jch habe
Freuden von der Welt gehofft, und sie gab mir
Thränen. Leben Sie wohl, mein Theurer, ewig theu-
rer Freund! Ach, Sie wissen nicht, wie theuer sie
mir sind; aber, wenn ich todt bin, sollen Sies er-
fahren. Siegwart war sehr gerührt bey ihrem
Abschied; er beweinte sie und ihr Geschick, ohne zu



nen. Jn allen jungen Herzen ſtieg der Wunſch
auf, auch ins Kloſter zu gehen. Sophie ſaß, im
Jnnerſten bewegt, da; jeder Ton drang ihr ans
Herz; ſie war auf dem Scheideweg zwiſchen Him-
mel und Erde; hier das Kloſter, das ihr lieber
Juͤngling mit aller Staͤrke der Beredſamkeit, und
dem Zauber des Geſangs abſchilderte — dort
die Welt und Er, der reizende und ſanfte Juͤngling
ſelbſt. Jhr Herz ward zerriſſen; endlich hub die
Staͤrke der Muſik ſie uͤber alles weg; und als
Thomas uͤber alle Ueberredungen und Hinderniſſe
ſiegte, riß auch ſie ſich von allem los, und flog in
ihrem Geiſt dem Kloſter und dem Himmel zu.
Drey oder vier Wochen darauf gieng ſie, ungeach-
tet aller Bitten ihrer Eltern als Novize ins Klo-
ſter. Den Tag vorher nahm ſie noch von Sieg-
wart Abſchied. Sie hatte ein ſchneeweiſſes Kleid
mit ſchwarzen Schleifen an. Jch bin eine Braut
des Himmels und des Todes, ſagte ſie. Jch habe
Freuden von der Welt gehofft, und ſie gab mir
Thraͤnen. Leben Sie wohl, mein Theurer, ewig theu-
rer Freund! Ach, Sie wiſſen nicht, wie theuer ſie
mir ſind; aber, wenn ich todt bin, ſollen Sies er-
fahren. Siegwart war ſehr geruͤhrt bey ihrem
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[514/0094] nen. Jn allen jungen Herzen ſtieg der Wunſch auf, auch ins Kloſter zu gehen. Sophie ſaß, im Jnnerſten bewegt, da; jeder Ton drang ihr ans Herz; ſie war auf dem Scheideweg zwiſchen Him- mel und Erde; hier das Kloſter, das ihr lieber Juͤngling mit aller Staͤrke der Beredſamkeit, und dem Zauber des Geſangs abſchilderte — dort die Welt und Er, der reizende und ſanfte Juͤngling ſelbſt. Jhr Herz ward zerriſſen; endlich hub die Staͤrke der Muſik ſie uͤber alles weg; und als Thomas uͤber alle Ueberredungen und Hinderniſſe ſiegte, riß auch ſie ſich von allem los, und flog in ihrem Geiſt dem Kloſter und dem Himmel zu. Drey oder vier Wochen darauf gieng ſie, ungeach- tet aller Bitten ihrer Eltern als Novize ins Klo- ſter. Den Tag vorher nahm ſie noch von Sieg- wart Abſchied. Sie hatte ein ſchneeweiſſes Kleid mit ſchwarzen Schleifen an. Jch bin eine Braut des Himmels und des Todes, ſagte ſie. Jch habe Freuden von der Welt gehofft, und ſie gab mir Thraͤnen. Leben Sie wohl, mein Theurer, ewig theu- rer Freund! Ach, Sie wiſſen nicht, wie theuer ſie mir ſind; aber, wenn ich todt bin, ſollen Sies er- fahren. Siegwart war ſehr geruͤhrt bey ihrem Abſchied; er beweinte ſie und ihr Geſchick, ohne zu

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/94>, abgerufen am 26.04.2024.