Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



schwächen, über das du doch nicht soviel Gewalt
hast, daß du es ablegen kannst, wann du willst.
Glaub nicht, daß für dich kein Glück und keine
Ruhe mehr auf Erden ist! Gott, der dieses
dir genommen hat, kann dirs wieder geben, und
aus Erfüllung unsrer Pflichten fließt die meiste Ruhe.

Siegwart weinte, und versprach, seinen Ver-
druß des Lebens, wo möglich, zu besiegen, we-
nigstens nichts vorzunehmen, was seinen Tod be-
schleunigen könnte. Er sprach jetzt weniger vom
Tode, wenn er bey seinem lieben Pater Anton
war. Er sah wohl ein, daß er schuldig sey, für
seine Erhaltung zu sorgen, und sich nicht dadurch
zu schwächen, daß er seinem Gram beständig nach-
hieng. Aber doch betäubte sein Gefühl ge-
wöhnlich seine Ueberzeugung; er konnte sich, zu-
mal wenn er allein war, selten aus seiner Melan-
cholie herausreissen; oft dachte er halbe Nächte
durch an seine Mariane; sie schien ihm wachend
und im Schlummer zu winken, und dann bemäch-
tigte sich seiner ein ungeduldiges Sehnen nach dem
Tod; er bat Gott darum mit lautem Weinen;
und dann machte er sich selber wieder Vorwürfe,
und bath Gott seinen Fehler ab.



ſchwaͤchen, uͤber das du doch nicht ſoviel Gewalt
haſt, daß du es ablegen kannſt, wann du willſt.
Glaub nicht, daß fuͤr dich kein Gluͤck und keine
Ruhe mehr auf Erden iſt! Gott, der dieſes
dir genommen hat, kann dirs wieder geben, und
aus Erfuͤllung unſrer Pflichten fließt die meiſte Ruhe.

Siegwart weinte, und verſprach, ſeinen Ver-
druß des Lebens, wo moͤglich, zu beſiegen, we-
nigſtens nichts vorzunehmen, was ſeinen Tod be-
ſchleunigen koͤnnte. Er ſprach jetzt weniger vom
Tode, wenn er bey ſeinem lieben Pater Anton
war. Er ſah wohl ein, daß er ſchuldig ſey, fuͤr
ſeine Erhaltung zu ſorgen, und ſich nicht dadurch
zu ſchwaͤchen, daß er ſeinem Gram beſtaͤndig nach-
hieng. Aber doch betaͤubte ſein Gefuͤhl ge-
woͤhnlich ſeine Ueberzeugung; er konnte ſich, zu-
mal wenn er allein war, ſelten aus ſeiner Melan-
cholie herausreiſſen; oft dachte er halbe Naͤchte
durch an ſeine Mariane; ſie ſchien ihm wachend
und im Schlummer zu winken, und dann bemaͤch-
tigte ſich ſeiner ein ungeduldiges Sehnen nach dem
Tod; er bat Gott darum mit lautem Weinen;
und dann machte er ſich ſelber wieder Vorwuͤrfe,
und bath Gott ſeinen Fehler ab.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0614" n="1034"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x017F;chwa&#x0364;chen, u&#x0364;ber das du doch nicht &#x017F;oviel Gewalt<lb/>
ha&#x017F;t, daß du es ablegen kann&#x017F;t, wann du will&#x017F;t.<lb/>
Glaub nicht, daß fu&#x0364;r dich kein Glu&#x0364;ck und keine<lb/>
Ruhe mehr auf Erden i&#x017F;t! Gott, der die&#x017F;es<lb/>
dir genommen hat, kann dirs wieder geben, und<lb/>
aus Erfu&#x0364;llung un&#x017F;rer Pflichten fließt die mei&#x017F;te Ruhe.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#fr">Siegwart</hi> weinte, und ver&#x017F;prach, &#x017F;einen Ver-<lb/>
druß des Lebens, wo mo&#x0364;glich, zu be&#x017F;iegen, we-<lb/>
nig&#x017F;tens nichts vorzunehmen, was &#x017F;einen Tod be-<lb/>
&#x017F;chleunigen ko&#x0364;nnte. Er &#x017F;prach jetzt weniger vom<lb/>
Tode, wenn er bey &#x017F;einem lieben Pater Anton<lb/>
war. Er &#x017F;ah wohl ein, daß er &#x017F;chuldig &#x017F;ey, fu&#x0364;r<lb/>
&#x017F;eine Erhaltung zu &#x017F;orgen, und &#x017F;ich nicht dadurch<lb/>
zu &#x017F;chwa&#x0364;chen, daß er &#x017F;einem Gram be&#x017F;ta&#x0364;ndig nach-<lb/>
hieng. Aber doch beta&#x0364;ubte &#x017F;ein Gefu&#x0364;hl ge-<lb/>
wo&#x0364;hnlich &#x017F;eine Ueberzeugung; er konnte &#x017F;ich, zu-<lb/>
mal wenn er allein war, &#x017F;elten aus &#x017F;einer Melan-<lb/>
cholie herausrei&#x017F;&#x017F;en; oft dachte er halbe Na&#x0364;chte<lb/>
durch an &#x017F;eine Mariane; &#x017F;ie &#x017F;chien ihm wachend<lb/>
und im Schlummer zu winken, und dann bema&#x0364;ch-<lb/>
tigte &#x017F;ich &#x017F;einer ein ungeduldiges Sehnen nach dem<lb/>
Tod; er bat Gott darum mit lautem Weinen;<lb/>
und dann machte er &#x017F;ich &#x017F;elber wieder Vorwu&#x0364;rfe,<lb/>
und bath Gott &#x017F;einen Fehler ab.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1034/0614] ſchwaͤchen, uͤber das du doch nicht ſoviel Gewalt haſt, daß du es ablegen kannſt, wann du willſt. Glaub nicht, daß fuͤr dich kein Gluͤck und keine Ruhe mehr auf Erden iſt! Gott, der dieſes dir genommen hat, kann dirs wieder geben, und aus Erfuͤllung unſrer Pflichten fließt die meiſte Ruhe. Siegwart weinte, und verſprach, ſeinen Ver- druß des Lebens, wo moͤglich, zu beſiegen, we- nigſtens nichts vorzunehmen, was ſeinen Tod be- ſchleunigen koͤnnte. Er ſprach jetzt weniger vom Tode, wenn er bey ſeinem lieben Pater Anton war. Er ſah wohl ein, daß er ſchuldig ſey, fuͤr ſeine Erhaltung zu ſorgen, und ſich nicht dadurch zu ſchwaͤchen, daß er ſeinem Gram beſtaͤndig nach- hieng. Aber doch betaͤubte ſein Gefuͤhl ge- woͤhnlich ſeine Ueberzeugung; er konnte ſich, zu- mal wenn er allein war, ſelten aus ſeiner Melan- cholie herausreiſſen; oft dachte er halbe Naͤchte durch an ſeine Mariane; ſie ſchien ihm wachend und im Schlummer zu winken, und dann bemaͤch- tigte ſich ſeiner ein ungeduldiges Sehnen nach dem Tod; er bat Gott darum mit lautem Weinen; und dann machte er ſich ſelber wieder Vorwuͤrfe, und bath Gott ſeinen Fehler ab.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/614
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1034. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/614>, abgerufen am 26.04.2024.