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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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schen Seele. Er sah es lang mit Entzücken und
mit Rührung an, dachte dabey an seine Mariane,
weinte, und gieng endlich, voll wehmüthiger Ge-
danken, zu Bette, Auf die Ermattung des Tages
schlief er ruhig, und wachte auf, als schon seit-
wärts durch die Tannenbäume einige gebrochne
Sonnenstrahlen in die kleine Kammer schienen. Er
stund auf, sah das Bild wieder eine halbe Stunde
lang, unbeweglich an, kleidete sich drauf an, und
gieng vor die Hütte, wo der Einsiedler tiefsinnig
und traurig auf der Rasenbank saß.

Haben Sie wohl geschlafen, theurer Vater?
fragte Siegwart. Red mehr die Sprache der
Vertraulichkeit, sagte dieser, und nenn mich Du!
Wir sind beyde unglücklich; und Unglückliche sind
sich näher, und noch mehr Brüder, als andre
Menschen. Du siehst heute frischer aus. Hast
du gut geschlafen? Setz dich zu mir, auf den Ra-
sen! Wir wollen erst miteinander bethen! Er bete-
te mit hoher Andacht, und heiligem Feuer, daß
die Seele unsers Siegwart ganz erschüttert, und
zum Himmel empor gehoben wurde. -- Drauf
nahm der Einsiedler seine Hand, und hub an:

Deine Geschichte hat mich tief gerührt; |sie
gieng mir beständig nach, und ich konnte fast die



ſchen Seele. Er ſah es lang mit Entzuͤcken und
mit Ruͤhrung an, dachte dabey an ſeine Mariane,
weinte, und gieng endlich, voll wehmuͤthiger Ge-
danken, zu Bette, Auf die Ermattung des Tages
ſchlief er ruhig, und wachte auf, als ſchon ſeit-
waͤrts durch die Tannenbaͤume einige gebrochne
Sonnenſtrahlen in die kleine Kammer ſchienen. Er
ſtund auf, ſah das Bild wieder eine halbe Stunde
lang, unbeweglich an, kleidete ſich drauf an, und
gieng vor die Huͤtte, wo der Einſiedler tiefſinnig
und traurig auf der Raſenbank ſaß.

Haben Sie wohl geſchlafen, theurer Vater?
fragte Siegwart. Red mehr die Sprache der
Vertraulichkeit, ſagte dieſer, und nenn mich Du!
Wir ſind beyde ungluͤcklich; und Ungluͤckliche ſind
ſich naͤher, und noch mehr Bruͤder, als andre
Menſchen. Du ſiehſt heute friſcher aus. Haſt
du gut geſchlafen? Setz dich zu mir, auf den Ra-
ſen! Wir wollen erſt miteinander bethen! Er bete-
te mit hoher Andacht, und heiligem Feuer, daß
die Seele unſers Siegwart ganz erſchuͤttert, und
zum Himmel empor gehoben wurde. — Drauf
nahm der Einſiedler ſeine Hand, und hub an:

Deine Geſchichte hat mich tief geruͤhrt; |ſie
gieng mir beſtaͤndig nach, und ich konnte faſt die

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[947/0527] ſchen Seele. Er ſah es lang mit Entzuͤcken und mit Ruͤhrung an, dachte dabey an ſeine Mariane, weinte, und gieng endlich, voll wehmuͤthiger Ge- danken, zu Bette, Auf die Ermattung des Tages ſchlief er ruhig, und wachte auf, als ſchon ſeit- waͤrts durch die Tannenbaͤume einige gebrochne Sonnenſtrahlen in die kleine Kammer ſchienen. Er ſtund auf, ſah das Bild wieder eine halbe Stunde lang, unbeweglich an, kleidete ſich drauf an, und gieng vor die Huͤtte, wo der Einſiedler tiefſinnig und traurig auf der Raſenbank ſaß. Haben Sie wohl geſchlafen, theurer Vater? fragte Siegwart. Red mehr die Sprache der Vertraulichkeit, ſagte dieſer, und nenn mich Du! Wir ſind beyde ungluͤcklich; und Ungluͤckliche ſind ſich naͤher, und noch mehr Bruͤder, als andre Menſchen. Du ſiehſt heute friſcher aus. Haſt du gut geſchlafen? Setz dich zu mir, auf den Ra- ſen! Wir wollen erſt miteinander bethen! Er bete- te mit hoher Andacht, und heiligem Feuer, daß die Seele unſers Siegwart ganz erſchuͤttert, und zum Himmel empor gehoben wurde. — Drauf nahm der Einſiedler ſeine Hand, und hub an: Deine Geſchichte hat mich tief geruͤhrt; |ſie gieng mir beſtaͤndig nach, und ich konnte faſt die

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 947. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/527>, abgerufen am 26.04.2024.