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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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genehmen Dämmerung setzte er sich mit der Bäu-
rin unter eine Linde vor dem Haus auf einen ab-
gehauenen Baum. Sie war sehr besorgt, daß
ihr Mann so lange nicht zurückkomme. Er hat
einen Fehler an sich, sagte sie, wenn er an einem
Ort einmal ist, da kann er sobald nicht wieder
wegkommen, und da guckt er oft zu tief ins Glä-
sel. Sonst aber ists ein kreuzbraver Mann.

Siegwart sprach nicht viel, und saß in tiefer
Wehmuth da. Er sah zum Himmel auf, wo nach
und nach einzelne Sterne sichtbar wurden. Oft
stieg sein Busen hoch, und ein lauter Seufzer
brach hervor. So lebhaft hatte er, seit der trau-
rigen Begebenheit, noch nie an seine Mariane,
und an sein fürchterliches Schicksal gedacht. Jetzt
übersah er es erst ganz, und schauderte vor der
hofnungslosen Zukunft. Er wünschte sich nichts,
als zu vergehen, und auf Einmal ewig aufzuhören.
Es ward ihm, als ob er Marianen wimmern
hörte, und wünschte, daß seine Seele aus dem
Leib eilen möchte, um sie zu trösten! Die
Bäurin ward indeß immer besorgter um ihren
Mann. Sie stund einigemal auf, und gieng ei-
nige Häuser weit, ob sie noch nichts höre? Sie
kam langsam wieder zurück, und sagte: Noch



genehmen Daͤmmerung ſetzte er ſich mit der Baͤu-
rin unter eine Linde vor dem Haus auf einen ab-
gehauenen Baum. Sie war ſehr beſorgt, daß
ihr Mann ſo lange nicht zuruͤckkomme. Er hat
einen Fehler an ſich, ſagte ſie, wenn er an einem
Ort einmal iſt, da kann er ſobald nicht wieder
wegkommen, und da guckt er oft zu tief ins Glaͤ-
ſel. Sonſt aber iſts ein kreuzbraver Mann.

Siegwart ſprach nicht viel, und ſaß in tiefer
Wehmuth da. Er ſah zum Himmel auf, wo nach
und nach einzelne Sterne ſichtbar wurden. Oft
ſtieg ſein Buſen hoch, und ein lauter Seufzer
brach hervor. So lebhaft hatte er, ſeit der trau-
rigen Begebenheit, noch nie an ſeine Mariane,
und an ſein fuͤrchterliches Schickſal gedacht. Jetzt
uͤberſah er es erſt ganz, und ſchauderte vor der
hofnungsloſen Zukunft. Er wuͤnſchte ſich nichts,
als zu vergehen, und auf Einmal ewig aufzuhoͤren.
Es ward ihm, als ob er Marianen wimmern
hoͤrte, und wuͤnſchte, daß ſeine Seele aus dem
Leib eilen moͤchte, um ſie zu troͤſten! Die
Baͤurin ward indeß immer beſorgter um ihren
Mann. Sie ſtund einigemal auf, und gieng ei-
nige Haͤuſer weit, ob ſie noch nichts hoͤre? Sie
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[933/0513] genehmen Daͤmmerung ſetzte er ſich mit der Baͤu- rin unter eine Linde vor dem Haus auf einen ab- gehauenen Baum. Sie war ſehr beſorgt, daß ihr Mann ſo lange nicht zuruͤckkomme. Er hat einen Fehler an ſich, ſagte ſie, wenn er an einem Ort einmal iſt, da kann er ſobald nicht wieder wegkommen, und da guckt er oft zu tief ins Glaͤ- ſel. Sonſt aber iſts ein kreuzbraver Mann. Siegwart ſprach nicht viel, und ſaß in tiefer Wehmuth da. Er ſah zum Himmel auf, wo nach und nach einzelne Sterne ſichtbar wurden. Oft ſtieg ſein Buſen hoch, und ein lauter Seufzer brach hervor. So lebhaft hatte er, ſeit der trau- rigen Begebenheit, noch nie an ſeine Mariane, und an ſein fuͤrchterliches Schickſal gedacht. Jetzt uͤberſah er es erſt ganz, und ſchauderte vor der hofnungsloſen Zukunft. Er wuͤnſchte ſich nichts, als zu vergehen, und auf Einmal ewig aufzuhoͤren. Es ward ihm, als ob er Marianen wimmern hoͤrte, und wuͤnſchte, daß ſeine Seele aus dem Leib eilen moͤchte, um ſie zu troͤſten! Die Baͤurin ward indeß immer beſorgter um ihren Mann. Sie ſtund einigemal auf, und gieng ei- nige Haͤuſer weit, ob ſie noch nichts hoͤre? Sie kam langſam wieder zuruͤck, und ſagte: Noch

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 933. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/513>, abgerufen am 26.04.2024.