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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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nichts, und war mit seinen Gedanken weit weg;
nur, wenn die andern eine Stelle lobten, sagte er
auch: das ist vortreflich! ohne zu wissen, wovon
die Rede war; nach dem Essen lasen sie weiter
fort, und als das Stück geendigt war, sagten sie
einander ihre Meynung drüber. Als Siegwart
die seinige auch sagen wollte, so wuste er gar nichts,
oder urtheilte ganz verkehrt. -- Wo waren sie
denn mit ihren Gedanken? fragte Gutfried. Jch
weis nicht, was ihm fehlt? fiel ihm Kronhelm ein.
Er ist eine Zeit her ganz zerstreut. Siegwart wur-
de feuerroth drüber, und sah nach dem Fenster. --
Den ganzen Tag war er ausserordentlich traurig
und verdrießlich.

Die folgende Woche floß ihm wieder unter Thränen,
Seufzern und schwärmerischen Träumereyen hin.
Kronhelm merkte die Veränderung, die in seinem gan-
zen Wesen vorgieng; er spielte oft drauf an; aber doch
nahm er sich Acht, weiter deswegen in ihn zu dringen,
theils, weil er merkte, daß ihm Siegwart auf
alle mögliche Art auswich, theils, weil er selbst ei-
ne unglückliche Liebe muthmaste, und aus seiner
eigenen Erfahrung wuste, wie hart es einem an-
komme, seine Leidenschaft einem andern, auch sei-
nem besten Freunde zu entdecken. -- Der Sonntag,



nichts, und war mit ſeinen Gedanken weit weg;
nur, wenn die andern eine Stelle lobten, ſagte er
auch: das iſt vortreflich! ohne zu wiſſen, wovon
die Rede war; nach dem Eſſen laſen ſie weiter
fort, und als das Stuͤck geendigt war, ſagten ſie
einander ihre Meynung druͤber. Als Siegwart
die ſeinige auch ſagen wollte, ſo wuſte er gar nichts,
oder urtheilte ganz verkehrt. — Wo waren ſie
denn mit ihren Gedanken? fragte Gutfried. Jch
weis nicht, was ihm fehlt? fiel ihm Kronhelm ein.
Er iſt eine Zeit her ganz zerſtreut. Siegwart wur-
de feuerroth druͤber, und ſah nach dem Fenſter. —
Den ganzen Tag war er auſſerordentlich traurig
und verdrießlich.

Die folgende Woche floß ihm wieder unter Thraͤnen,
Seufzern und ſchwaͤrmeriſchen Traͤumereyen hin.
Kronhelm merkte die Veraͤnderung, die in ſeinem gan-
zen Weſen vorgieng; er ſpielte oft drauf an; aber doch
nahm er ſich Acht, weiter deswegen in ihn zu dringen,
theils, weil er merkte, daß ihm Siegwart auf
alle moͤgliche Art auswich, theils, weil er ſelbſt ei-
ne ungluͤckliche Liebe muthmaſte, und aus ſeiner
eigenen Erfahrung wuſte, wie hart es einem an-
komme, ſeine Leidenſchaft einem andern, auch ſei-
nem beſten Freunde zu entdecken. — Der Sonntag,

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[592/0172] nichts, und war mit ſeinen Gedanken weit weg; nur, wenn die andern eine Stelle lobten, ſagte er auch: das iſt vortreflich! ohne zu wiſſen, wovon die Rede war; nach dem Eſſen laſen ſie weiter fort, und als das Stuͤck geendigt war, ſagten ſie einander ihre Meynung druͤber. Als Siegwart die ſeinige auch ſagen wollte, ſo wuſte er gar nichts, oder urtheilte ganz verkehrt. — Wo waren ſie denn mit ihren Gedanken? fragte Gutfried. Jch weis nicht, was ihm fehlt? fiel ihm Kronhelm ein. Er iſt eine Zeit her ganz zerſtreut. Siegwart wur- de feuerroth druͤber, und ſah nach dem Fenſter. — Den ganzen Tag war er auſſerordentlich traurig und verdrießlich. Die folgende Woche floß ihm wieder unter Thraͤnen, Seufzern und ſchwaͤrmeriſchen Traͤumereyen hin. Kronhelm merkte die Veraͤnderung, die in ſeinem gan- zen Weſen vorgieng; er ſpielte oft drauf an; aber doch nahm er ſich Acht, weiter deswegen in ihn zu dringen, theils, weil er merkte, daß ihm Siegwart auf alle moͤgliche Art auswich, theils, weil er ſelbſt ei- ne ungluͤckliche Liebe muthmaſte, und aus ſeiner eigenen Erfahrung wuſte, wie hart es einem an- komme, ſeine Leidenſchaft einem andern, auch ſei- nem beſten Freunde zu entdecken. — Der Sonntag,

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/172>, abgerufen am 27.04.2024.