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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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und Vergebung, denn er hielt, aus zu genauer
Gewissenhaftigkeit, seine Empfindung für Sünde.
Er wuste nicht, war es Liebe, oder was es war?
Endlich legte er sich zu Bette. Lang bemühte er
sich umsonst, einzuschlafen. Wenn er die Augen
zumachte, so stand das Mädchen lebendiger, als
ers sich den Tag über hatte vorstellen können, ihm
vor Augen. Den andern Morgen wachte er früh
auf; die eben aufgehende Sonne schien in seine
Kammer; eine Thräne schoß ihm in die Augen,
denn sein erster Gedanke war das Mädchen. Jhr
gen Himmel gehobnes Auge gab seiner Andacht
Schwingen. Er stand auf, streckte die Arme aus,
als ob er sie umfangen wollte, und betete so feu-
rig, als er fast noch nie gebetet hatte. -- Gott!
Gott! seufzte er: Jch kenne mich selbst nicht mehr!
Was will ich? Was fehlt mir? Warum denk
ich immer an den Engel? Wenn es Sünde ist,
o Gott! so vergib mir! Du hast ihn erschaffen!
Jch kann nicht anders. Jch bin immer bey ihm!
Ach, wo mag sie seyn, die Heilige, die unaus-
sprechlich Holde? Ach, wo mag sie seyn, dann
betete er wieder. Aber immer schien ihms, als ob
sie sich zwischen Gott und ihn stellte, oder mit ihm
betete. -- Er gieng ins Kollegium. Auch da



und Vergebung, denn er hielt, aus zu genauer
Gewiſſenhaftigkeit, ſeine Empfindung fuͤr Suͤnde.
Er wuſte nicht, war es Liebe, oder was es war?
Endlich legte er ſich zu Bette. Lang bemuͤhte er
ſich umſonſt, einzuſchlafen. Wenn er die Augen
zumachte, ſo ſtand das Maͤdchen lebendiger, als
ers ſich den Tag uͤber hatte vorſtellen koͤnnen, ihm
vor Augen. Den andern Morgen wachte er fruͤh
auf; die eben aufgehende Sonne ſchien in ſeine
Kammer; eine Thraͤne ſchoß ihm in die Augen,
denn ſein erſter Gedanke war das Maͤdchen. Jhr
gen Himmel gehobnes Auge gab ſeiner Andacht
Schwingen. Er ſtand auf, ſtreckte die Arme aus,
als ob er ſie umfangen wollte, und betete ſo feu-
rig, als er faſt noch nie gebetet hatte. — Gott!
Gott! ſeufzte er: Jch kenne mich ſelbſt nicht mehr!
Was will ich? Was fehlt mir? Warum denk
ich immer an den Engel? Wenn es Suͤnde iſt,
o Gott! ſo vergib mir! Du haſt ihn erſchaffen!
Jch kann nicht anders. Jch bin immer bey ihm!
Ach, wo mag ſie ſeyn, die Heilige, die unaus-
ſprechlich Holde? Ach, wo mag ſie ſeyn, dann
betete er wieder. Aber immer ſchien ihms, als ob
ſie ſich zwiſchen Gott und ihn ſtellte, oder mit ihm
betete. — Er gieng ins Kollegium. Auch da

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[567/0147] und Vergebung, denn er hielt, aus zu genauer Gewiſſenhaftigkeit, ſeine Empfindung fuͤr Suͤnde. Er wuſte nicht, war es Liebe, oder was es war? Endlich legte er ſich zu Bette. Lang bemuͤhte er ſich umſonſt, einzuſchlafen. Wenn er die Augen zumachte, ſo ſtand das Maͤdchen lebendiger, als ers ſich den Tag uͤber hatte vorſtellen koͤnnen, ihm vor Augen. Den andern Morgen wachte er fruͤh auf; die eben aufgehende Sonne ſchien in ſeine Kammer; eine Thraͤne ſchoß ihm in die Augen, denn ſein erſter Gedanke war das Maͤdchen. Jhr gen Himmel gehobnes Auge gab ſeiner Andacht Schwingen. Er ſtand auf, ſtreckte die Arme aus, als ob er ſie umfangen wollte, und betete ſo feu- rig, als er faſt noch nie gebetet hatte. — Gott! Gott! ſeufzte er: Jch kenne mich ſelbſt nicht mehr! Was will ich? Was fehlt mir? Warum denk ich immer an den Engel? Wenn es Suͤnde iſt, o Gott! ſo vergib mir! Du haſt ihn erſchaffen! Jch kann nicht anders. Jch bin immer bey ihm! Ach, wo mag ſie ſeyn, die Heilige, die unaus- ſprechlich Holde? Ach, wo mag ſie ſeyn, dann betete er wieder. Aber immer ſchien ihms, als ob ſie ſich zwiſchen Gott und ihn ſtellte, oder mit ihm betete. — Er gieng ins Kollegium. Auch da

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/147>, abgerufen am 26.04.2024.