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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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scheint ihnen weit weniger wunderbar, als eine fort¬
dauernde generatio aequivoca, welche die Philosophen
behaupten. In dieser Weise suchen sie aber überall
die gröbsten, augenfälligsten, mechanischen Ursachen,
wenn sie auch bei den Haaren herbeigezerrt werden
müssen, um nur ja keine dynamischen, unsichtbaren
Ursachen gelten zu lassen, wenn sie auch noch so ein¬
fach vorliegen.

Der Empiriker muß auch zuweilen das Ganze
der Natur überblicken, aber er stellt dann nur die Er¬
scheinungen in Reih und Glied auf, nach ihren äu¬
ßern Kennzeichen, ohne die eine heilige Naturkraft,
die in allen waltet, erkennen zu wollen; oder er
täuscht sich über die ungeheure Aufgabe, die dem
menschlichen Forschungsgeist noch jenseits des Anschau¬
baren und Handfesten geboten ist, mit frommer klein¬
müthiger Selbstbeschränkung und spricht von göttli¬
chen Wundern. Schon Lichtenberg sagt: je weniger
ein Naturforscher seine eigne Größe darthun kann,
desto lauter preist er die Größe Gottes.

Immerhin aber ist die Naturerfahrung der Bo¬
den, auf dem auch die Naturphilosophie allein gedei¬
hen kann. Die getreueste und zusammenhängendste
Erfahrung hat unmittelbar zur Philosophie geführt,
und die besten Philosophen sind der Natur treu ge¬
blieben, während nur die einseitige und grobe Em¬
pirie allem philosophischen Geist widersprochen und
nur der Wahnsinn einiger Philosophen von aller Na¬
turwahrheit sich entfernt hat.

ſcheint ihnen weit weniger wunderbar, als eine fort¬
dauernde generatio aequivoca, welche die Philoſophen
behaupten. In dieſer Weiſe ſuchen ſie aber uͤberall
die groͤbſten, augenfaͤlligſten, mechaniſchen Urſachen,
wenn ſie auch bei den Haaren herbeigezerrt werden
muͤſſen, um nur ja keine dynamiſchen, unſichtbaren
Urſachen gelten zu laſſen, wenn ſie auch noch ſo ein¬
fach vorliegen.

Der Empiriker muß auch zuweilen das Ganze
der Natur uͤberblicken, aber er ſtellt dann nur die Er¬
ſcheinungen in Reih und Glied auf, nach ihren aͤu¬
ßern Kennzeichen, ohne die eine heilige Naturkraft,
die in allen waltet, erkennen zu wollen; oder er
taͤuſcht ſich uͤber die ungeheure Aufgabe, die dem
menſchlichen Forſchungsgeiſt noch jenſeits des Anſchau¬
baren und Handfeſten geboten iſt, mit frommer klein¬
muͤthiger Selbſtbeſchraͤnkung und ſpricht von goͤttli¬
chen Wundern. Schon Lichtenberg ſagt: je weniger
ein Naturforſcher ſeine eigne Groͤße darthun kann,
deſto lauter preist er die Groͤße Gottes.

Immerhin aber iſt die Naturerfahrung der Bo¬
den, auf dem auch die Naturphiloſophie allein gedei¬
hen kann. Die getreueſte und zuſammenhaͤngendſte
Erfahrung hat unmittelbar zur Philoſophie gefuͤhrt,
und die beſten Philoſophen ſind der Natur treu ge¬
blieben, waͤhrend nur die einſeitige und grobe Em¬
pirie allem philoſophiſchen Geiſt widerſprochen und
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[21/0031] ſcheint ihnen weit weniger wunderbar, als eine fort¬ dauernde generatio aequivoca, welche die Philoſophen behaupten. In dieſer Weiſe ſuchen ſie aber uͤberall die groͤbſten, augenfaͤlligſten, mechaniſchen Urſachen, wenn ſie auch bei den Haaren herbeigezerrt werden muͤſſen, um nur ja keine dynamiſchen, unſichtbaren Urſachen gelten zu laſſen, wenn ſie auch noch ſo ein¬ fach vorliegen. Der Empiriker muß auch zuweilen das Ganze der Natur uͤberblicken, aber er ſtellt dann nur die Er¬ ſcheinungen in Reih und Glied auf, nach ihren aͤu¬ ßern Kennzeichen, ohne die eine heilige Naturkraft, die in allen waltet, erkennen zu wollen; oder er taͤuſcht ſich uͤber die ungeheure Aufgabe, die dem menſchlichen Forſchungsgeiſt noch jenſeits des Anſchau¬ baren und Handfeſten geboten iſt, mit frommer klein¬ muͤthiger Selbſtbeſchraͤnkung und ſpricht von goͤttli¬ chen Wundern. Schon Lichtenberg ſagt: je weniger ein Naturforſcher ſeine eigne Groͤße darthun kann, deſto lauter preist er die Groͤße Gottes. Immerhin aber iſt die Naturerfahrung der Bo¬ den, auf dem auch die Naturphiloſophie allein gedei¬ hen kann. Die getreueſte und zuſammenhaͤngendſte Erfahrung hat unmittelbar zur Philoſophie gefuͤhrt, und die beſten Philoſophen ſind der Natur treu ge¬ blieben, waͤhrend nur die einſeitige und grobe Em¬ pirie allem philoſophiſchen Geiſt widerſprochen und nur der Wahnſinn einiger Philoſophen von aller Na¬ turwahrheit ſich entfernt hat.

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/31>, abgerufen am 26.04.2024.