Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

Bild:
<< vorherige Seite
Irrungen und Wirrungen.

Weil bei der einseitig männlichen Entwicklung unsrer Kul-
tur auf Wissen und Macht hin die Aufgabe der Frau an der
geistigen Welt nicht erkannt wird, weil man die für glückliche
Ergänzung notwendigen Gegensätze zwischen den Geschlechtern
nicht natürlich faßt, sondern künstlich konstruiert, so leidet nun
unser ganzes Volk auch geradezu wirtschaftlich unter einer
falschen Entwickelung und falschen Stellung seiner Frauen. Es
bestätigt sich hier auf dem Kulturgebiet ein Gesetz, das man
im Körperleben längst durch bittere Erfahrungen erkannt hat.
Wenn Organe, deren Funktion im Körperhaushalt schwer
nachweisbar sind, durch Vernachlässigung in Wucherung oder
Verkümmerung verfallen oder gar entfernt werden müssen,
dann gerät schließlich doch der ganze Körper in krankhafte
Zustände, und man erkennt zu spät, daß diese Organe wohl
nötig waren, wenn der Körper gesund bleiben sollte.

Wie man die Frau weder Kaufmann, noch Hand-
werker,
noch Bauer werden ließ, so wollte man sie, sehr
richtig, auch nicht in der Gelehrtenzunft dulden. Und
trotz aller schönen Redensarten von Persönlichkeitsbildung wußte
man aus aller höhern geistigen Bildung nichts bessres zu ma-
chen als eine intensive Berufsvorbildung für bestimmte höhere
Berufe, vollständig zugeschnitten auf bestimmte Berechtigungen,
von oben nach unten, von rechts nach links zerschnitten in
Karriereetappen, mit chinesischen Mauern bestimmter Rang- und
Klassenvorrechte geschützt. Pegasus im Joche! So ist die hö-
here geistige, die wissenschaftliche Bildung nicht nur das tabu
des Mannes, sondern geradezu bestimmter männlicher Stände
geworden. Wie schwer können sich noch heute die "Schrif-

Irrungen und Wirrungen.

Weil bei der einseitig männlichen Entwicklung unsrer Kul-
tur auf Wissen und Macht hin die Aufgabe der Frau an der
geistigen Welt nicht erkannt wird, weil man die für glückliche
Ergänzung notwendigen Gegensätze zwischen den Geschlechtern
nicht natürlich faßt, sondern künstlich konstruiert, so leidet nun
unser ganzes Volk auch geradezu wirtschaftlich unter einer
falschen Entwickelung und falschen Stellung seiner Frauen. Es
bestätigt sich hier auf dem Kulturgebiet ein Gesetz, das man
im Körperleben längst durch bittere Erfahrungen erkannt hat.
Wenn Organe, deren Funktion im Körperhaushalt schwer
nachweisbar sind, durch Vernachlässigung in Wucherung oder
Verkümmerung verfallen oder gar entfernt werden müssen,
dann gerät schließlich doch der ganze Körper in krankhafte
Zustände, und man erkennt zu spät, daß diese Organe wohl
nötig waren, wenn der Körper gesund bleiben sollte.

Wie man die Frau weder Kaufmann, noch Hand-
werker,
noch Bauer werden ließ, so wollte man sie, sehr
richtig, auch nicht in der Gelehrtenzunft dulden. Und
trotz aller schönen Redensarten von Persönlichkeitsbildung wußte
man aus aller höhern geistigen Bildung nichts bessres zu ma-
chen als eine intensive Berufsvorbildung für bestimmte höhere
Berufe, vollständig zugeschnitten auf bestimmte Berechtigungen,
von oben nach unten, von rechts nach links zerschnitten in
Karriereetappen, mit chinesischen Mauern bestimmter Rang- und
Klassenvorrechte geschützt. Pegasus im Joche! So ist die hö-
here geistige, die wissenschaftliche Bildung nicht nur das tabu
des Mannes, sondern geradezu bestimmter männlicher Stände
geworden. Wie schwer können sich noch heute die „Schrif-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0015" n="12"/>
      <div n="1">
        <head>Irrungen und Wirrungen.</head><lb/>
        <p>Weil bei der einseitig männlichen Entwicklung unsrer Kul-<lb/>
tur auf Wissen und Macht hin die Aufgabe der Frau an der<lb/>
geistigen Welt nicht erkannt wird, weil man die für glückliche<lb/>
Ergänzung notwendigen Gegensätze zwischen den Geschlechtern<lb/>
nicht natürlich faßt, sondern künstlich konstruiert, so leidet nun<lb/>
unser ganzes Volk auch geradezu wirtschaftlich unter einer<lb/>
falschen Entwickelung und falschen Stellung seiner Frauen. Es<lb/>
bestätigt sich hier auf dem Kulturgebiet ein Gesetz, das man<lb/>
im Körperleben längst durch bittere Erfahrungen erkannt hat.<lb/>
Wenn Organe, deren Funktion im Körperhaushalt schwer<lb/>
nachweisbar sind, durch Vernachlässigung in Wucherung oder<lb/>
Verkümmerung verfallen oder gar entfernt werden müssen,<lb/>
dann gerät schließlich doch der ganze Körper in krankhafte<lb/>
Zustände, und man erkennt zu spät, daß diese Organe wohl<lb/>
nötig waren, wenn der Körper gesund bleiben sollte.</p><lb/>
        <p>Wie man die Frau weder <hi rendition="#g">Kaufmann,</hi> noch <hi rendition="#g">Hand-<lb/>
werker,</hi> noch <hi rendition="#g">Bauer</hi> werden ließ, so wollte man sie, sehr<lb/>
richtig, auch nicht in der <hi rendition="#g">Gelehrtenzunft</hi> dulden. Und<lb/>
trotz aller schönen Redensarten von Persönlichkeitsbildung wußte<lb/>
man aus aller höhern geistigen Bildung nichts bessres zu ma-<lb/>
chen als eine intensive Berufsvorbildung für bestimmte höhere<lb/>
Berufe, vollständig zugeschnitten auf bestimmte Berechtigungen,<lb/>
von oben nach unten, von rechts nach links zerschnitten in<lb/>
Karriereetappen, mit chinesischen Mauern bestimmter Rang- und<lb/>
Klassenvorrechte geschützt. Pegasus im Joche! So ist die hö-<lb/>
here geistige, die wissenschaftliche Bildung nicht nur das <hi rendition="#aq">tabu</hi><lb/>
des Mannes, sondern geradezu bestimmter männlicher Stände<lb/>
geworden. Wie schwer können sich noch heute die &#x201E;Schrif-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[12/0015] Irrungen und Wirrungen. Weil bei der einseitig männlichen Entwicklung unsrer Kul- tur auf Wissen und Macht hin die Aufgabe der Frau an der geistigen Welt nicht erkannt wird, weil man die für glückliche Ergänzung notwendigen Gegensätze zwischen den Geschlechtern nicht natürlich faßt, sondern künstlich konstruiert, so leidet nun unser ganzes Volk auch geradezu wirtschaftlich unter einer falschen Entwickelung und falschen Stellung seiner Frauen. Es bestätigt sich hier auf dem Kulturgebiet ein Gesetz, das man im Körperleben längst durch bittere Erfahrungen erkannt hat. Wenn Organe, deren Funktion im Körperhaushalt schwer nachweisbar sind, durch Vernachlässigung in Wucherung oder Verkümmerung verfallen oder gar entfernt werden müssen, dann gerät schließlich doch der ganze Körper in krankhafte Zustände, und man erkennt zu spät, daß diese Organe wohl nötig waren, wenn der Körper gesund bleiben sollte. Wie man die Frau weder Kaufmann, noch Hand- werker, noch Bauer werden ließ, so wollte man sie, sehr richtig, auch nicht in der Gelehrtenzunft dulden. Und trotz aller schönen Redensarten von Persönlichkeitsbildung wußte man aus aller höhern geistigen Bildung nichts bessres zu ma- chen als eine intensive Berufsvorbildung für bestimmte höhere Berufe, vollständig zugeschnitten auf bestimmte Berechtigungen, von oben nach unten, von rechts nach links zerschnitten in Karriereetappen, mit chinesischen Mauern bestimmter Rang- und Klassenvorrechte geschützt. Pegasus im Joche! So ist die hö- here geistige, die wissenschaftliche Bildung nicht nur das tabu des Mannes, sondern geradezu bestimmter männlicher Stände geworden. Wie schwer können sich noch heute die „Schrif-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Projekt: Texte zur Frauenfrage um 1900 Gießen/Kassel: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-06-11T19:37:41Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Thomas Gloning, Melanie Henß: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-06-11T19:37:41Z)
Internet Archive: Bereitstellung der Bilddigitalisate. (2013-06-11T19:37:41Z)

Weitere Informationen:

Verfahrung der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • Druckfehler: dokumentiert
  • Kolumnentitel: nicht übernommen
  • Kustoden: nicht übernommen
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert
  • Vollständigkeit: teilweise erfasst



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/15
Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/15>, abgerufen am 18.11.2024.