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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Vernachlässigung der Doppelbilder.
schneiden und die identischen Netzhautmeridiane einander parallel
laufen. Unter dieser Voraussetzung müssen selbstverständlich die im
Durchschnittspunkt beider Sehachsen liegenden Gegenstände ihre
Bilder auf identische Netzhautstellen senden. Diese hier entworfenen
Bilder wirken aber intensiver als alle übrigen, weil sie erstens auf
die empfindlichste Netzhautstelle treffen und dann, weil auf diesem
Wege die Seele denselben Eindruck doppelt empfängt und weil end-
lich, nach einem bemerkenswerthen Zusammenhang der zwischen
dem Accommodationsapparat und den Augenmuskeln besteht, der opti-
sche Apparat des Auges unwillkürlich gerade für die Entfernung ein-
gestellt ist, in welcher sich die Sehachsen schneiden.

Die Beziehung, welche zwischen der zur Convergenz der Sehachsen führenden
Augenbewegung und dem Accommodationsapparate besteht, scheint eine durch die
Erziehung der Augen erworbene zu sein. Wie Volkmann *) erwiesen, kommen wenig-
stens die Fälle zahlreich vor, wo der optische Apparat des Auges nicht für die Ent-
fernung des Convergenzpunktes beider Sehachsen eingestellt ist.

c. Grösse eines gesehenen Gegenstandes. Die Grösse eines
Gegenstandes, d. h. seine scheinbare Ausdehnung nach Höhe und
Breite, schätzen wir nachweislich unter Beihilfe mehrerer Elemente,
und namentlich: nach der Ausdehnung, welche das Bild des Gegen-
standes auf der Retina einnimmt; und nach dem Grade von Zusam-
menziehung, in welcher sich die Muskeln des dioptrischen Einrich-
tungsapparates und die mm. recti interni bulbi zu der Zeit befinden,
als der Lichteindruck des Bildes empfunden wurde.

Alles andere gleichgesetzt wächst, wie es scheint, unsre Vorstel-
lung von der Grösse eines Gegenstandes mit der Ausdehnung seines
Bildes auf der Retina oder seinem Sehwinkel.

[Abbildung] Fig. 66.

Der Winkel A K B oder
D K' C, Fig. 66, welchen die
vordern (A K, B K) oder
hintern (D K' C K') Rich-
tungsstrahlen der Grenz-
punkte A und B eines
Gegenstandes A B an den
Knotenpunkten einschlies-
sen, heisst der Sehwinkel.
Dieser Sehwinkel gibt, wie
man sieht, ein genaues
Maass für die Grösse des
auf der Retina entworfe-
nen Bildes, weil die Ent-
fernung der Knotenpunkte
von der ersteren eine constante bleibt. -- Die obigen Angaben, dass ein Gegenstand in
unserm Urtheil wie der Sehwinkel wachse, bedarf keiner Erläuterung, da es jedem
bekannt ist, dass wenn er zwei Gegenstände, wie A B und a b in der Fig. 66, im Raume
aufeinanderlegt, der kleinere 1/2, 1/4, u. s. w. mal so gross, als der grössere erscheinen
wird, wenn sein Sehwinkel a' K' b' 1/4 · 1/2 u. s. w. mal so gross ist.

*) Wagners Handwörterbuch III. Bd. 307.

Vernachlässigung der Doppelbilder.
schneiden und die identischen Netzhautmeridiane einander parallel
laufen. Unter dieser Voraussetzung müssen selbstverständlich die im
Durchschnittspunkt beider Sehachsen liegenden Gegenstände ihre
Bilder auf identische Netzhautstellen senden. Diese hier entworfenen
Bilder wirken aber intensiver als alle übrigen, weil sie erstens auf
die empfindlichste Netzhautstelle treffen und dann, weil auf diesem
Wege die Seele denselben Eindruck doppelt empfängt und weil end-
lich, nach einem bemerkenswerthen Zusammenhang der zwischen
dem Accommodationsapparat und den Augenmuskeln besteht, der opti-
sche Apparat des Auges unwillkürlich gerade für die Entfernung ein-
gestellt ist, in welcher sich die Sehachsen schneiden.

Die Beziehung, welche zwischen der zur Convergenz der Sehachsen führenden
Augenbewegung und dem Accommodationsapparate besteht, scheint eine durch die
Erziehung der Augen erworbene zu sein. Wie Volkmann *) erwiesen, kommen wenig-
stens die Fälle zahlreich vor, wo der optische Apparat des Auges nicht für die Ent-
fernung des Convergenzpunktes beider Sehachsen eingestellt ist.

c. Grösse eines gesehenen Gegenstandes. Die Grösse eines
Gegenstandes, d. h. seine scheinbare Ausdehnung nach Höhe und
Breite, schätzen wir nachweislich unter Beihilfe mehrerer Elemente,
und namentlich: nach der Ausdehnung, welche das Bild des Gegen-
standes auf der Retina einnimmt; und nach dem Grade von Zusam-
menziehung, in welcher sich die Muskeln des dioptrischen Einrich-
tungsapparates und die mm. recti interni bulbi zu der Zeit befinden,
als der Lichteindruck des Bildes empfunden wurde.

Alles andere gleichgesetzt wächst, wie es scheint, unsre Vorstel-
lung von der Grösse eines Gegenstandes mit der Ausdehnung seines
Bildes auf der Retina oder seinem Sehwinkel.

[Abbildung] Fig. 66.

Der Winkel A K B oder
D K′ C, Fig. 66, welchen die
vordern (A K, B K) oder
hintern (D K′ C K′) Rich-
tungsstrahlen der Grenz-
punkte A und B eines
Gegenstandes A B an den
Knotenpunkten einschlies-
sen, heisst der Sehwinkel.
Dieser Sehwinkel gibt, wie
man sieht, ein genaues
Maass für die Grösse des
auf der Retina entworfe-
nen Bildes, weil die Ent-
fernung der Knotenpunkte
von der ersteren eine constante bleibt. — Die obigen Angaben, dass ein Gegenstand in
unserm Urtheil wie der Sehwinkel wachse, bedarf keiner Erläuterung, da es jedem
bekannt ist, dass wenn er zwei Gegenstände, wie A B und a b in der Fig. 66, im Raume
aufeinanderlegt, der kleinere ½, ¼, u. s. w. mal so gross, als der grössere erscheinen
wird, wenn sein Sehwinkel a′ K′ b′ ¼ · ½ u. s. w. mal so gross ist.

*) Wagners Handwörterbuch III. Bd. 307.
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[250/0264] Vernachlässigung der Doppelbilder. schneiden und die identischen Netzhautmeridiane einander parallel laufen. Unter dieser Voraussetzung müssen selbstverständlich die im Durchschnittspunkt beider Sehachsen liegenden Gegenstände ihre Bilder auf identische Netzhautstellen senden. Diese hier entworfenen Bilder wirken aber intensiver als alle übrigen, weil sie erstens auf die empfindlichste Netzhautstelle treffen und dann, weil auf diesem Wege die Seele denselben Eindruck doppelt empfängt und weil end- lich, nach einem bemerkenswerthen Zusammenhang der zwischen dem Accommodationsapparat und den Augenmuskeln besteht, der opti- sche Apparat des Auges unwillkürlich gerade für die Entfernung ein- gestellt ist, in welcher sich die Sehachsen schneiden. Die Beziehung, welche zwischen der zur Convergenz der Sehachsen führenden Augenbewegung und dem Accommodationsapparate besteht, scheint eine durch die Erziehung der Augen erworbene zu sein. Wie Volkmann *) erwiesen, kommen wenig- stens die Fälle zahlreich vor, wo der optische Apparat des Auges nicht für die Ent- fernung des Convergenzpunktes beider Sehachsen eingestellt ist. c. Grösse eines gesehenen Gegenstandes. Die Grösse eines Gegenstandes, d. h. seine scheinbare Ausdehnung nach Höhe und Breite, schätzen wir nachweislich unter Beihilfe mehrerer Elemente, und namentlich: nach der Ausdehnung, welche das Bild des Gegen- standes auf der Retina einnimmt; und nach dem Grade von Zusam- menziehung, in welcher sich die Muskeln des dioptrischen Einrich- tungsapparates und die mm. recti interni bulbi zu der Zeit befinden, als der Lichteindruck des Bildes empfunden wurde. Alles andere gleichgesetzt wächst, wie es scheint, unsre Vorstel- lung von der Grösse eines Gegenstandes mit der Ausdehnung seines Bildes auf der Retina oder seinem Sehwinkel. [Abbildung Fig. 66.] Der Winkel A K B oder D K′ C, Fig. 66, welchen die vordern (A K, B K) oder hintern (D K′ C K′) Rich- tungsstrahlen der Grenz- punkte A und B eines Gegenstandes A B an den Knotenpunkten einschlies- sen, heisst der Sehwinkel. Dieser Sehwinkel gibt, wie man sieht, ein genaues Maass für die Grösse des auf der Retina entworfe- nen Bildes, weil die Ent- fernung der Knotenpunkte von der ersteren eine constante bleibt. — Die obigen Angaben, dass ein Gegenstand in unserm Urtheil wie der Sehwinkel wachse, bedarf keiner Erläuterung, da es jedem bekannt ist, dass wenn er zwei Gegenstände, wie A B und a b in der Fig. 66, im Raume aufeinanderlegt, der kleinere ½, ¼, u. s. w. mal so gross, als der grössere erscheinen wird, wenn sein Sehwinkel a′ K′ b′ ¼ · ½ u. s. w. mal so gross ist. *) Wagners Handwörterbuch III. Bd. 307.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/264>, abgerufen am 26.04.2024.