Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

welcher aus den Bedürfnissen der Kunst herge-
nommen ist, welcher uns um weiter nichts, als
sehr mittelmäßige Stücke bringen kann, ist dar-
um nichts schlechter, weil er den schwächern Ge-
müthern zu Statten kömmt, die, ich weiß nicht
welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesin-
nungen, auf die sie sich nur an einer heiligern
Stäte gefaßt machen, im Theater zu hören be-
kommen. Das Theater soll niemanden, wer es
auch sey, Anstoß geben; und ich wünschte, daß
es auch allem genommenen Anstoße vorbeugen
könnte und wollte.

Cronegk hatte sein Stück nur bis gegen das
Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das
übrige hat eine Feder in Wien dazu gefüget;
eine Feder -- denn die Arbeit eines Kopfes ist
dabey nicht sehr sichtbar. Der Ergänzer hat,
allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders
geendet, als sie Cronegk zu enden Willens gewe-
sen. Der Tod löset alle Verwirrungen am
besten; darum läßt er beide sterben, den Olint
und die Sophronia. Beym Tasso kommen sie
beide davon; denn Clorinde nimmt sich mit der
uneigennützigsten Großmuth ihrer an. Cronegk
aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da
war es freylich schwer zu errathen, wie er zwey
Nebenbuhlerinnen aus einander setzen wollen,
ohne den Tod zu Hülfe zu rufen. In einem an-
dern noch schlechtern Trauerspiele, wo eine von

den

welcher aus den Beduͤrfniſſen der Kunſt herge-
nommen iſt, welcher uns um weiter nichts, als
ſehr mittelmaͤßige Stuͤcke bringen kann, iſt dar-
um nichts ſchlechter, weil er den ſchwaͤchern Ge-
muͤthern zu Statten koͤmmt, die, ich weiß nicht
welchen Schauder empfinden, wenn ſie Geſin-
nungen, auf die ſie ſich nur an einer heiligern
Staͤte gefaßt machen, im Theater zu hoͤren be-
kommen. Das Theater ſoll niemanden, wer es
auch ſey, Anſtoß geben; und ich wuͤnſchte, daß
es auch allem genommenen Anſtoße vorbeugen
koͤnnte und wollte.

Cronegk hatte ſein Stuͤck nur bis gegen das
Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das
uͤbrige hat eine Feder in Wien dazu gefuͤget;
eine Feder — denn die Arbeit eines Kopfes iſt
dabey nicht ſehr ſichtbar. Der Ergaͤnzer hat,
allem Anſehen nach, die Geſchichte ganz anders
geendet, als ſie Cronegk zu enden Willens gewe-
ſen. Der Tod loͤſet alle Verwirrungen am
beſten; darum laͤßt er beide ſterben, den Olint
und die Sophronia. Beym Taſſo kommen ſie
beide davon; denn Clorinde nimmt ſich mit der
uneigennuͤtzigſten Großmuth ihrer an. Cronegk
aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da
war es freylich ſchwer zu errathen, wie er zwey
Nebenbuhlerinnen aus einander ſetzen wollen,
ohne den Tod zu Huͤlfe zu rufen. In einem an-
dern noch ſchlechtern Trauerſpiele, wo eine von

den
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0026" n="12"/>
welcher aus den Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;en der Kun&#x017F;t herge-<lb/>
nommen i&#x017F;t, welcher uns um weiter nichts, als<lb/>
&#x017F;ehr mittelma&#x0364;ßige Stu&#x0364;cke bringen kann, i&#x017F;t dar-<lb/>
um nichts &#x017F;chlechter, weil er den &#x017F;chwa&#x0364;chern Ge-<lb/>
mu&#x0364;thern zu Statten ko&#x0364;mmt, die, ich weiß nicht<lb/>
welchen Schauder empfinden, wenn &#x017F;ie Ge&#x017F;in-<lb/>
nungen, auf die &#x017F;ie &#x017F;ich nur an einer heiligern<lb/>
Sta&#x0364;te gefaßt machen, im Theater zu ho&#x0364;ren be-<lb/>
kommen. Das Theater &#x017F;oll niemanden, wer es<lb/>
auch &#x017F;ey, An&#x017F;toß geben; und ich wu&#x0364;n&#x017F;chte, daß<lb/>
es auch allem genommenen An&#x017F;toße vorbeugen<lb/>
ko&#x0364;nnte und wollte.</p><lb/>
        <p>Cronegk hatte &#x017F;ein Stu&#x0364;ck nur bis gegen das<lb/>
Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das<lb/>
u&#x0364;brige hat eine Feder in Wien dazu gefu&#x0364;get;<lb/>
eine Feder &#x2014; denn die Arbeit eines Kopfes i&#x017F;t<lb/>
dabey nicht &#x017F;ehr &#x017F;ichtbar. Der Erga&#x0364;nzer hat,<lb/>
allem An&#x017F;ehen nach, die Ge&#x017F;chichte ganz anders<lb/>
geendet, als &#x017F;ie Cronegk zu enden Willens gewe-<lb/>
&#x017F;en. Der Tod lo&#x0364;&#x017F;et alle Verwirrungen am<lb/>
be&#x017F;ten; darum la&#x0364;ßt er beide &#x017F;terben, den Olint<lb/>
und die Sophronia. Beym Ta&#x017F;&#x017F;o kommen &#x017F;ie<lb/>
beide davon; denn Clorinde nimmt &#x017F;ich mit der<lb/>
uneigennu&#x0364;tzig&#x017F;ten Großmuth ihrer an. Cronegk<lb/>
aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da<lb/>
war es freylich &#x017F;chwer zu errathen, wie er zwey<lb/>
Nebenbuhlerinnen aus einander &#x017F;etzen wollen,<lb/>
ohne den Tod zu Hu&#x0364;lfe zu rufen. In einem an-<lb/>
dern noch &#x017F;chlechtern Trauer&#x017F;piele, wo eine von<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[12/0026] welcher aus den Beduͤrfniſſen der Kunſt herge- nommen iſt, welcher uns um weiter nichts, als ſehr mittelmaͤßige Stuͤcke bringen kann, iſt dar- um nichts ſchlechter, weil er den ſchwaͤchern Ge- muͤthern zu Statten koͤmmt, die, ich weiß nicht welchen Schauder empfinden, wenn ſie Geſin- nungen, auf die ſie ſich nur an einer heiligern Staͤte gefaßt machen, im Theater zu hoͤren be- kommen. Das Theater ſoll niemanden, wer es auch ſey, Anſtoß geben; und ich wuͤnſchte, daß es auch allem genommenen Anſtoße vorbeugen koͤnnte und wollte. Cronegk hatte ſein Stuͤck nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das uͤbrige hat eine Feder in Wien dazu gefuͤget; eine Feder — denn die Arbeit eines Kopfes iſt dabey nicht ſehr ſichtbar. Der Ergaͤnzer hat, allem Anſehen nach, die Geſchichte ganz anders geendet, als ſie Cronegk zu enden Willens gewe- ſen. Der Tod loͤſet alle Verwirrungen am beſten; darum laͤßt er beide ſterben, den Olint und die Sophronia. Beym Taſſo kommen ſie beide davon; denn Clorinde nimmt ſich mit der uneigennuͤtzigſten Großmuth ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da war es freylich ſchwer zu errathen, wie er zwey Nebenbuhlerinnen aus einander ſetzen wollen, ohne den Tod zu Huͤlfe zu rufen. In einem an- dern noch ſchlechtern Trauerſpiele, wo eine von den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/26
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/26>, abgerufen am 26.04.2024.