Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Abschnitt. X. Fragment. Genie. II. Zugabe.
von diesem Theosophen, beygefügt. "Sciant itaque homines, quantum intersit inter huma-
"nae mentis idola et divinae mentis ideas: Humanae mentis idola nil aliud sunt, quam
"abstractiones ad placitum: Divinae mentis ideae sunt vera signacula creatoris super crea-
"turas, prout in materia per lineas veras et exquisitas imprimuntur et terminantur.

"Haeque ipsissimae res sunt veritas et utilitas, atque opera ipsa pluris facienda sunt,
"quatenus sunt veritatis pignora, quam propter vitae commoda."

O Physiognomik, wann wirst du Schlüssel aller Geheimnisse -- Ohr und Auge für alle
Gotteswahrheit seyn!

Eilftes Fragment.
Einige physiognomische Anekdoten.
1.

Richts, sagte ein Vater zu seinem unschuldsvollen Sohne, als er ihm beym Antritte seiner Reise
den Abschiedskuß gab: Nichts, mein Sohn, als: "Bring mir dieß dein Gesicht wieder zurück!"

2.

Ein edles, frommes, unschuldiges, größtentheils auf dem Lande erzogenes Fräulein -- traf
mit ihrem Gesichte auf den Spiegel, als sie eben von ihrem Abendgebete aufstand, ihre Bibel auf
die Seite legte, und das Licht wegnahm. Mit der edelsten Bescheidenheit schlug sie vor ihrem eignen
Bilde erröthend die Augen nieder. Sie brachte den Winter in der Stadt zu -- umringt von Anbe-
tern, zerrissen von Zerstreuungen -- hineingelacht in fades Gelächter -- vergaß sie Bibel und An-
dacht. Jm Anfange des Frühlings kam sie auf ihr Landhaus zurück -- zurück in ihre Kammer --
zurück zum Tische, wo ihre Bibel lag -- hatte das Licht in der Hand, und sah sich wieder im Spie-
gel -- und erblaßte vor sich selber; stellte das Licht hin, warf sich aufs Sopha, warf sich auf ihre
Kniee nieder -- "O Gott! ich kenne mich nicht mehr! wie bin ich gesunken! -- Meines Leichtsinns
"Thorheiten alle -- sie sind auf mein Gesicht geschrieben -- O Gott! warum waren sie mir unle-
"serlich und unmerklich bis itzt -- lösche sie aus -- lösche sie wieder aus -- einfältige, fromme
"Stille! süße Andacht! milde Sorgfalt wohlthätiger Liebe!"

3. Jhr
N 2

I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. II. Zugabe.
von dieſem Theoſophen, beygefuͤgt. „Sciant itaque homines, quantum interſit inter huma-
„nae mentis idola et divinae mentis ideas: Humanae mentis idola nil aliud ſunt, quam
abſtractiones ad placitum: Divinae mentis ideae ſunt vera ſignacula creatoris ſuper crea-
„turas, prout in materia per lineas veras et exquiſitas imprimuntur et terminantur.

„Haeque ipſiſſimae res ſunt veritas et utilitas, atque opera ipſa pluris facienda ſunt,
„quatenus ſunt veritatis pignora, quam propter vitae commoda.“

O Phyſiognomik, wann wirſt du Schluͤſſel aller Geheimniſſe — Ohr und Auge fuͤr alle
Gotteswahrheit ſeyn!

Eilftes Fragment.
Einige phyſiognomiſche Anekdoten.
1.

Richts, ſagte ein Vater zu ſeinem unſchuldsvollen Sohne, als er ihm beym Antritte ſeiner Reiſe
den Abſchiedskuß gab: Nichts, mein Sohn, als: „Bring mir dieß dein Geſicht wieder zuruͤck!“

2.

Ein edles, frommes, unſchuldiges, groͤßtentheils auf dem Lande erzogenes Fraͤulein — traf
mit ihrem Geſichte auf den Spiegel, als ſie eben von ihrem Abendgebete aufſtand, ihre Bibel auf
die Seite legte, und das Licht wegnahm. Mit der edelſten Beſcheidenheit ſchlug ſie vor ihrem eignen
Bilde erroͤthend die Augen nieder. Sie brachte den Winter in der Stadt zu — umringt von Anbe-
tern, zerriſſen von Zerſtreuungen — hineingelacht in fades Gelaͤchter — vergaß ſie Bibel und An-
dacht. Jm Anfange des Fruͤhlings kam ſie auf ihr Landhaus zuruͤck — zuruͤck in ihre Kammer —
zuruͤck zum Tiſche, wo ihre Bibel lag — hatte das Licht in der Hand, und ſah ſich wieder im Spie-
gel — und erblaßte vor ſich ſelber; ſtellte das Licht hin, warf ſich aufs Sopha, warf ſich auf ihre
Kniee nieder — „O Gott! ich kenne mich nicht mehr! wie bin ich geſunken! — Meines Leichtſinns
„Thorheiten alle — ſie ſind auf mein Geſicht geſchrieben — O Gott! warum waren ſie mir unle-
„ſerlich und unmerklich bis itzt — loͤſche ſie aus — loͤſche ſie wieder aus — einfaͤltige, fromme
„Stille! ſuͤße Andacht! milde Sorgfalt wohlthaͤtiger Liebe!“

3. Jhr
N 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0127" n="99"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">X.</hi> Fragment. Genie. <hi rendition="#aq">II.</hi> Zugabe.</hi></fw><lb/>
von die&#x017F;em <hi rendition="#b">Theo&#x017F;ophen,</hi> beygefu&#x0364;gt. <hi rendition="#aq">&#x201E;Sciant itaque homines, quantum inter&#x017F;it inter huma-<lb/>
&#x201E;nae mentis <hi rendition="#i">idola</hi> et divinae mentis <hi rendition="#i">ideas:</hi> Humanae mentis idola nil aliud &#x017F;unt, quam<lb/>
&#x201E;<hi rendition="#i">ab&#x017F;tractiones</hi> ad <hi rendition="#i">placitum:</hi> Divinae mentis ideae &#x017F;unt <hi rendition="#i">vera &#x017F;ignacula</hi> creatoris &#x017F;uper crea-<lb/>
&#x201E;turas, prout in materia per <hi rendition="#i">lineas veras</hi> et <hi rendition="#i">exqui&#x017F;itas</hi> imprimuntur et terminantur.</hi></p><lb/>
                <p> <hi rendition="#aq">&#x201E;Haeque ip&#x017F;i&#x017F;&#x017F;imae res &#x017F;unt <hi rendition="#i">veritas</hi> et utilitas, atque <hi rendition="#i">opera</hi> ip&#x017F;a pluris facienda &#x017F;unt,<lb/>
&#x201E;quatenus &#x017F;unt <hi rendition="#i">veritatis pignora,</hi> quam propter vitae commoda.&#x201C;</hi> </p><lb/>
                <p>O Phy&#x017F;iognomik, wann wir&#x017F;t <hi rendition="#b">du</hi> Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;el aller Geheimni&#x017F;&#x017F;e &#x2014; Ohr und Auge fu&#x0364;r alle<lb/>
Gotteswahrheit &#x017F;eyn!</p>
              </div>
            </div>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Eilftes Fragment.<lb/><hi rendition="#g">Einige phy&#x017F;iognomi&#x017F;che Anekdoten.</hi></hi> </head><lb/>
            <div n="4">
              <head>1.</head><lb/>
              <p><hi rendition="#in">R</hi>ichts, &#x017F;agte ein Vater zu &#x017F;einem un&#x017F;chuldsvollen Sohne, als er ihm beym Antritte &#x017F;einer Rei&#x017F;e<lb/>
den Ab&#x017F;chiedskuß gab: Nichts, mein Sohn, als: <hi rendition="#b">&#x201E;Bring mir dieß dein Ge&#x017F;icht wieder zuru&#x0364;ck!&#x201C;</hi></p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>2.</head><lb/>
              <p>Ein edles, frommes, un&#x017F;chuldiges, gro&#x0364;ßtentheils auf dem Lande erzogenes Fra&#x0364;ulein &#x2014; traf<lb/>
mit ihrem Ge&#x017F;ichte auf den Spiegel, als &#x017F;ie eben von ihrem Abendgebete auf&#x017F;tand, ihre Bibel auf<lb/>
die Seite legte, und das Licht wegnahm. Mit der edel&#x017F;ten Be&#x017F;cheidenheit &#x017F;chlug &#x017F;ie vor ihrem eignen<lb/>
Bilde erro&#x0364;thend die Augen nieder. Sie brachte den Winter in der Stadt zu &#x2014; umringt von Anbe-<lb/>
tern, zerri&#x017F;&#x017F;en von Zer&#x017F;treuungen &#x2014; hineingelacht in fades Gela&#x0364;chter &#x2014; vergaß &#x017F;ie Bibel und An-<lb/>
dacht. Jm Anfange des Fru&#x0364;hlings kam &#x017F;ie auf ihr Landhaus zuru&#x0364;ck &#x2014; zuru&#x0364;ck in ihre Kammer &#x2014;<lb/>
zuru&#x0364;ck zum Ti&#x017F;che, wo ihre Bibel lag &#x2014; hatte das Licht in der Hand, und &#x017F;ah &#x017F;ich wieder im Spie-<lb/>
gel &#x2014; und erblaßte vor &#x017F;ich &#x017F;elber; &#x017F;tellte das Licht hin, warf &#x017F;ich aufs Sopha, warf &#x017F;ich auf ihre<lb/>
Kniee nieder &#x2014; &#x201E;O Gott! ich kenne mich nicht mehr! wie bin ich ge&#x017F;unken! &#x2014; Meines Leicht&#x017F;inns<lb/>
&#x201E;Thorheiten alle &#x2014; &#x017F;ie &#x017F;ind auf mein Ge&#x017F;icht ge&#x017F;chrieben &#x2014; O Gott! warum waren &#x017F;ie mir unle-<lb/>
&#x201E;&#x017F;erlich und unmerklich bis itzt &#x2014; lo&#x0364;&#x017F;che &#x017F;ie aus &#x2014; lo&#x0364;&#x017F;che &#x017F;ie wieder aus &#x2014; einfa&#x0364;ltige, fromme<lb/>
&#x201E;Stille! &#x017F;u&#x0364;ße Andacht! milde Sorgfalt wohltha&#x0364;tiger Liebe!&#x201C;</p>
            </div><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">N 2</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">3. Jhr</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[99/0127] I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. II. Zugabe. von dieſem Theoſophen, beygefuͤgt. „Sciant itaque homines, quantum interſit inter huma- „nae mentis idola et divinae mentis ideas: Humanae mentis idola nil aliud ſunt, quam „abſtractiones ad placitum: Divinae mentis ideae ſunt vera ſignacula creatoris ſuper crea- „turas, prout in materia per lineas veras et exquiſitas imprimuntur et terminantur. „Haeque ipſiſſimae res ſunt veritas et utilitas, atque opera ipſa pluris facienda ſunt, „quatenus ſunt veritatis pignora, quam propter vitae commoda.“ O Phyſiognomik, wann wirſt du Schluͤſſel aller Geheimniſſe — Ohr und Auge fuͤr alle Gotteswahrheit ſeyn! Eilftes Fragment. Einige phyſiognomiſche Anekdoten. 1. Richts, ſagte ein Vater zu ſeinem unſchuldsvollen Sohne, als er ihm beym Antritte ſeiner Reiſe den Abſchiedskuß gab: Nichts, mein Sohn, als: „Bring mir dieß dein Geſicht wieder zuruͤck!“ 2. Ein edles, frommes, unſchuldiges, groͤßtentheils auf dem Lande erzogenes Fraͤulein — traf mit ihrem Geſichte auf den Spiegel, als ſie eben von ihrem Abendgebete aufſtand, ihre Bibel auf die Seite legte, und das Licht wegnahm. Mit der edelſten Beſcheidenheit ſchlug ſie vor ihrem eignen Bilde erroͤthend die Augen nieder. Sie brachte den Winter in der Stadt zu — umringt von Anbe- tern, zerriſſen von Zerſtreuungen — hineingelacht in fades Gelaͤchter — vergaß ſie Bibel und An- dacht. Jm Anfange des Fruͤhlings kam ſie auf ihr Landhaus zuruͤck — zuruͤck in ihre Kammer — zuruͤck zum Tiſche, wo ihre Bibel lag — hatte das Licht in der Hand, und ſah ſich wieder im Spie- gel — und erblaßte vor ſich ſelber; ſtellte das Licht hin, warf ſich aufs Sopha, warf ſich auf ihre Kniee nieder — „O Gott! ich kenne mich nicht mehr! wie bin ich geſunken! — Meines Leichtſinns „Thorheiten alle — ſie ſind auf mein Geſicht geſchrieben — O Gott! warum waren ſie mir unle- „ſerlich und unmerklich bis itzt — loͤſche ſie aus — loͤſche ſie wieder aus — einfaͤltige, fromme „Stille! ſuͤße Andacht! milde Sorgfalt wohlthaͤtiger Liebe!“ 3. Jhr N 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/127
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/127>, abgerufen am 18.12.2024.