von diesem Theosophen, beygefügt. "Sciant itaque homines, quantum intersit inter huma- "nae mentis idola et divinae mentis ideas: Humanae mentis idola nil aliud sunt, quam "abstractiones ad placitum: Divinae mentis ideae sunt vera signacula creatoris super crea- "turas, prout in materia per lineas veras et exquisitas imprimuntur et terminantur.
"Haeque ipsissimae res sunt veritas et utilitas, atque opera ipsa pluris facienda sunt, "quatenus sunt veritatis pignora, quam propter vitae commoda."
O Physiognomik, wann wirst du Schlüssel aller Geheimnisse -- Ohr und Auge für alle Gotteswahrheit seyn!
Eilftes Fragment. Einige physiognomische Anekdoten.
1.
Richts, sagte ein Vater zu seinem unschuldsvollen Sohne, als er ihm beym Antritte seiner Reise den Abschiedskuß gab: Nichts, mein Sohn, als: "Bring mir dieß dein Gesicht wieder zurück!"
2.
Ein edles, frommes, unschuldiges, größtentheils auf dem Lande erzogenes Fräulein -- traf mit ihrem Gesichte auf den Spiegel, als sie eben von ihrem Abendgebete aufstand, ihre Bibel auf die Seite legte, und das Licht wegnahm. Mit der edelsten Bescheidenheit schlug sie vor ihrem eignen Bilde erröthend die Augen nieder. Sie brachte den Winter in der Stadt zu -- umringt von Anbe- tern, zerrissen von Zerstreuungen -- hineingelacht in fades Gelächter -- vergaß sie Bibel und An- dacht. Jm Anfange des Frühlings kam sie auf ihr Landhaus zurück -- zurück in ihre Kammer -- zurück zum Tische, wo ihre Bibel lag -- hatte das Licht in der Hand, und sah sich wieder im Spie- gel -- und erblaßte vor sich selber; stellte das Licht hin, warf sich aufs Sopha, warf sich auf ihre Kniee nieder -- "O Gott! ich kenne mich nicht mehr! wie bin ich gesunken! -- Meines Leichtsinns "Thorheiten alle -- sie sind auf mein Gesicht geschrieben -- O Gott! warum waren sie mir unle- "serlich und unmerklich bis itzt -- lösche sie aus -- lösche sie wieder aus -- einfältige, fromme "Stille! süße Andacht! milde Sorgfalt wohlthätiger Liebe!"
3. Jhr
N 2
I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. II. Zugabe.
von dieſem Theoſophen, beygefuͤgt. „Sciant itaque homines, quantum interſit inter huma- „nae mentis idola et divinae mentis ideas: Humanae mentis idola nil aliud ſunt, quam „abſtractiones ad placitum: Divinae mentis ideae ſunt vera ſignacula creatoris ſuper crea- „turas, prout in materia per lineas veras et exquiſitas imprimuntur et terminantur.
„Haeque ipſiſſimae res ſunt veritas et utilitas, atque opera ipſa pluris facienda ſunt, „quatenus ſunt veritatis pignora, quam propter vitae commoda.“
O Phyſiognomik, wann wirſt du Schluͤſſel aller Geheimniſſe — Ohr und Auge fuͤr alle Gotteswahrheit ſeyn!
Eilftes Fragment. Einige phyſiognomiſche Anekdoten.
1.
Richts, ſagte ein Vater zu ſeinem unſchuldsvollen Sohne, als er ihm beym Antritte ſeiner Reiſe den Abſchiedskuß gab: Nichts, mein Sohn, als: „Bring mir dieß dein Geſicht wieder zuruͤck!“
2.
Ein edles, frommes, unſchuldiges, groͤßtentheils auf dem Lande erzogenes Fraͤulein — traf mit ihrem Geſichte auf den Spiegel, als ſie eben von ihrem Abendgebete aufſtand, ihre Bibel auf die Seite legte, und das Licht wegnahm. Mit der edelſten Beſcheidenheit ſchlug ſie vor ihrem eignen Bilde erroͤthend die Augen nieder. Sie brachte den Winter in der Stadt zu — umringt von Anbe- tern, zerriſſen von Zerſtreuungen — hineingelacht in fades Gelaͤchter — vergaß ſie Bibel und An- dacht. Jm Anfange des Fruͤhlings kam ſie auf ihr Landhaus zuruͤck — zuruͤck in ihre Kammer — zuruͤck zum Tiſche, wo ihre Bibel lag — hatte das Licht in der Hand, und ſah ſich wieder im Spie- gel — und erblaßte vor ſich ſelber; ſtellte das Licht hin, warf ſich aufs Sopha, warf ſich auf ihre Kniee nieder — „O Gott! ich kenne mich nicht mehr! wie bin ich geſunken! — Meines Leichtſinns „Thorheiten alle — ſie ſind auf mein Geſicht geſchrieben — O Gott! warum waren ſie mir unle- „ſerlich und unmerklich bis itzt — loͤſche ſie aus — loͤſche ſie wieder aus — einfaͤltige, fromme „Stille! ſuͤße Andacht! milde Sorgfalt wohlthaͤtiger Liebe!“
3. Jhr
N 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0127"n="99"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">I.</hi> Abſchnitt. <hirendition="#aq">X.</hi> Fragment. Genie. <hirendition="#aq">II.</hi> Zugabe.</hi></fw><lb/>
von dieſem <hirendition="#b">Theoſophen,</hi> beygefuͤgt. <hirendition="#aq">„Sciant itaque homines, quantum interſit inter huma-<lb/>„nae mentis <hirendition="#i">idola</hi> et divinae mentis <hirendition="#i">ideas:</hi> Humanae mentis idola nil aliud ſunt, quam<lb/>„<hirendition="#i">abſtractiones</hi> ad <hirendition="#i">placitum:</hi> Divinae mentis ideae ſunt <hirendition="#i">vera ſignacula</hi> creatoris ſuper crea-<lb/>„turas, prout in materia per <hirendition="#i">lineas veras</hi> et <hirendition="#i">exquiſitas</hi> imprimuntur et terminantur.</hi></p><lb/><p><hirendition="#aq">„Haeque ipſiſſimae res ſunt <hirendition="#i">veritas</hi> et utilitas, atque <hirendition="#i">opera</hi> ipſa pluris facienda ſunt,<lb/>„quatenus ſunt <hirendition="#i">veritatis pignora,</hi> quam propter vitae commoda.“</hi></p><lb/><p>O Phyſiognomik, wann wirſt <hirendition="#b">du</hi> Schluͤſſel aller Geheimniſſe — Ohr und Auge fuͤr alle<lb/>
Gotteswahrheit ſeyn!</p></div></div></div><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Eilftes Fragment.<lb/><hirendition="#g">Einige phyſiognomiſche Anekdoten.</hi></hi></head><lb/><divn="4"><head>1.</head><lb/><p><hirendition="#in">R</hi>ichts, ſagte ein Vater zu ſeinem unſchuldsvollen Sohne, als er ihm beym Antritte ſeiner Reiſe<lb/>
den Abſchiedskuß gab: Nichts, mein Sohn, als: <hirendition="#b">„Bring mir dieß dein Geſicht wieder zuruͤck!“</hi></p></div><lb/><divn="4"><head>2.</head><lb/><p>Ein edles, frommes, unſchuldiges, groͤßtentheils auf dem Lande erzogenes Fraͤulein — traf<lb/>
mit ihrem Geſichte auf den Spiegel, als ſie eben von ihrem Abendgebete aufſtand, ihre Bibel auf<lb/>
die Seite legte, und das Licht wegnahm. Mit der edelſten Beſcheidenheit ſchlug ſie vor ihrem eignen<lb/>
Bilde erroͤthend die Augen nieder. Sie brachte den Winter in der Stadt zu — umringt von Anbe-<lb/>
tern, zerriſſen von Zerſtreuungen — hineingelacht in fades Gelaͤchter — vergaß ſie Bibel und An-<lb/>
dacht. Jm Anfange des Fruͤhlings kam ſie auf ihr Landhaus zuruͤck — zuruͤck in ihre Kammer —<lb/>
zuruͤck zum Tiſche, wo ihre Bibel lag — hatte das Licht in der Hand, und ſah ſich wieder im Spie-<lb/>
gel — und erblaßte vor ſich ſelber; ſtellte das Licht hin, warf ſich aufs Sopha, warf ſich auf ihre<lb/>
Kniee nieder —„O Gott! ich kenne mich nicht mehr! wie bin ich geſunken! — Meines Leichtſinns<lb/>„Thorheiten alle —ſie ſind auf mein Geſicht geſchrieben — O Gott! warum waren ſie mir unle-<lb/>„ſerlich und unmerklich bis itzt — loͤſche ſie aus — loͤſche ſie wieder aus — einfaͤltige, fromme<lb/>„Stille! ſuͤße Andacht! milde Sorgfalt wohlthaͤtiger Liebe!“</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="sig">N 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">3. Jhr</fw><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[99/0127]
I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. II. Zugabe.
von dieſem Theoſophen, beygefuͤgt. „Sciant itaque homines, quantum interſit inter huma-
„nae mentis idola et divinae mentis ideas: Humanae mentis idola nil aliud ſunt, quam
„abſtractiones ad placitum: Divinae mentis ideae ſunt vera ſignacula creatoris ſuper crea-
„turas, prout in materia per lineas veras et exquiſitas imprimuntur et terminantur.
„Haeque ipſiſſimae res ſunt veritas et utilitas, atque opera ipſa pluris facienda ſunt,
„quatenus ſunt veritatis pignora, quam propter vitae commoda.“
O Phyſiognomik, wann wirſt du Schluͤſſel aller Geheimniſſe — Ohr und Auge fuͤr alle
Gotteswahrheit ſeyn!
Eilftes Fragment.
Einige phyſiognomiſche Anekdoten.
1.
Richts, ſagte ein Vater zu ſeinem unſchuldsvollen Sohne, als er ihm beym Antritte ſeiner Reiſe
den Abſchiedskuß gab: Nichts, mein Sohn, als: „Bring mir dieß dein Geſicht wieder zuruͤck!“
2.
Ein edles, frommes, unſchuldiges, groͤßtentheils auf dem Lande erzogenes Fraͤulein — traf
mit ihrem Geſichte auf den Spiegel, als ſie eben von ihrem Abendgebete aufſtand, ihre Bibel auf
die Seite legte, und das Licht wegnahm. Mit der edelſten Beſcheidenheit ſchlug ſie vor ihrem eignen
Bilde erroͤthend die Augen nieder. Sie brachte den Winter in der Stadt zu — umringt von Anbe-
tern, zerriſſen von Zerſtreuungen — hineingelacht in fades Gelaͤchter — vergaß ſie Bibel und An-
dacht. Jm Anfange des Fruͤhlings kam ſie auf ihr Landhaus zuruͤck — zuruͤck in ihre Kammer —
zuruͤck zum Tiſche, wo ihre Bibel lag — hatte das Licht in der Hand, und ſah ſich wieder im Spie-
gel — und erblaßte vor ſich ſelber; ſtellte das Licht hin, warf ſich aufs Sopha, warf ſich auf ihre
Kniee nieder — „O Gott! ich kenne mich nicht mehr! wie bin ich geſunken! — Meines Leichtſinns
„Thorheiten alle — ſie ſind auf mein Geſicht geſchrieben — O Gott! warum waren ſie mir unle-
„ſerlich und unmerklich bis itzt — loͤſche ſie aus — loͤſche ſie wieder aus — einfaͤltige, fromme
„Stille! ſuͤße Andacht! milde Sorgfalt wohlthaͤtiger Liebe!“
3. Jhr
N 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/127>, abgerufen am 23.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.