"Jhr seyd kein Christ" -- sagte ein Geistlicher zu einem Unbekannten, der mit guten Em- pfehlungsschreiben, die viel von seiner Frömmigkeit sprachen, in sein Zimmer trat -- nachdem er die- ses Schreiben kaum gelesen hatte -- "Und warum kein Christ? Jch?" -- fragte der Fremdling -- "Weil ihr so schweinisch ausseht! " -- war des Geistlichen Antwort -- und des Fremdlings Er- wiederung: "Das war ich mir wohl nicht von Jhnen vermuthend!" -- "So wenig ohne Zweifel, antwortete der Geistliche, "als ich von einem Christen vermuthen kann, er kenne die Würde der "menschlichen Natur und Gestalt so wenig, daß er ihr nicht Rath und Ehre anthun mag. Rein- "lichkeit ist freylich kein Beweis von Christenthum -- aber selbst verschuldete Unreinlichkeit ist ein "sicherer Beweis von Unchristenthum. -- Reinlichkeit eines Gemähldes ist kein Beweis, daß der "Mahler oder Besitzer Kenner sey; aber ein gewisser Beweis, daß er's nicht ist, wenn er ein Mei- "sterstück bestauben, und von Feuchtigkeit verderben läßt."
4.
"Jch will des Todes seyn" -- sagte Bruder Tazitus zum Bruder Titus -- von einem Geistlichen, den er auf seinen Reisen sah, "ich will des Todes seyn, wenn der nicht ein Erzschurk "ist -- dreymal sah ich ihn auf der Kanzel weinen und schluchzen, wo gar nichts zu weinen war, "und zehnmal mit einem unverheelbaren Lächeln sich auf die Seite wenden, wenn von einem Un- "glücke die Rede war."
5.
"Wie viel Thaler ist mein Gesicht werth?" fragte ein Unbekannter einen Physiognomisten -- der antwortete, wie natürlich, "das wäre schwer zu bestimmen" -- "Funfzehnhundert -- sagte der Frager -- "denn so viel lieh mir jemand, dem ich gänzlich unbekannt war, auf mein bloßes "Gesicht." --
6.
Ein noch lebender großer Mahler in England, von feinem physiognomischem Sinn und wunderlichem Charakter, sollte eine sehr vornehme ihm gänzlich unbekannte Dame, die einen herz- lich schlechten Charakter hatte, mahlen. Die Dame wußte, wie schwer es war, sich von ihm mah- len zu lassen. Große Leute und große Anerbietungen sollten also den Mahler dazu bereden --
Man
I. Abſchnitt. XI. Fragment.
3.
„Jhr ſeyd kein Chriſt“ — ſagte ein Geiſtlicher zu einem Unbekannten, der mit guten Em- pfehlungsſchreiben, die viel von ſeiner Froͤmmigkeit ſprachen, in ſein Zimmer trat — nachdem er die- ſes Schreiben kaum geleſen hatte — „Und warum kein Chriſt? Jch?“ — fragte der Fremdling — „Weil ihr ſo ſchweiniſch ausſeht! “ — war des Geiſtlichen Antwort — und des Fremdlings Er- wiederung: „Das war ich mir wohl nicht von Jhnen vermuthend!“ — „So wenig ohne Zweifel, antwortete der Geiſtliche, „als ich von einem Chriſten vermuthen kann, er kenne die Wuͤrde der „menſchlichen Natur und Geſtalt ſo wenig, daß er ihr nicht Rath und Ehre anthun mag. Rein- „lichkeit iſt freylich kein Beweis von Chriſtenthum — aber ſelbſt verſchuldete Unreinlichkeit iſt ein „ſicherer Beweis von Unchriſtenthum. — Reinlichkeit eines Gemaͤhldes iſt kein Beweis, daß der „Mahler oder Beſitzer Kenner ſey; aber ein gewiſſer Beweis, daß er’s nicht iſt, wenn er ein Mei- „ſterſtuͤck beſtauben, und von Feuchtigkeit verderben laͤßt.“
4.
„Jch will des Todes ſeyn“ — ſagte Bruder Tazitus zum Bruder Titus — von einem Geiſtlichen, den er auf ſeinen Reiſen ſah, „ich will des Todes ſeyn, wenn der nicht ein Erzſchurk „iſt — dreymal ſah ich ihn auf der Kanzel weinen und ſchluchzen, wo gar nichts zu weinen war, „und zehnmal mit einem unverheelbaren Laͤcheln ſich auf die Seite wenden, wenn von einem Un- „gluͤcke die Rede war.“
5.
„Wie viel Thaler iſt mein Geſicht werth?“ fragte ein Unbekannter einen Phyſiognomiſten — der antwortete, wie natuͤrlich, „das waͤre ſchwer zu beſtimmen“ — „Funfzehnhundert — ſagte der Frager — „denn ſo viel lieh mir jemand, dem ich gaͤnzlich unbekannt war, auf mein bloßes „Geſicht.“ —
6.
Ein noch lebender großer Mahler in England, von feinem phyſiognomiſchem Sinn und wunderlichem Charakter, ſollte eine ſehr vornehme ihm gaͤnzlich unbekannte Dame, die einen herz- lich ſchlechten Charakter hatte, mahlen. Die Dame wußte, wie ſchwer es war, ſich von ihm mah- len zu laſſen. Große Leute und große Anerbietungen ſollten alſo den Mahler dazu bereden —
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I. Abſchnitt. XI. Fragment.
3.
„Jhr ſeyd kein Chriſt“ — ſagte ein Geiſtlicher zu einem Unbekannten, der mit guten Em-
pfehlungsſchreiben, die viel von ſeiner Froͤmmigkeit ſprachen, in ſein Zimmer trat — nachdem er die-
ſes Schreiben kaum geleſen hatte — „Und warum kein Chriſt? Jch?“ — fragte der Fremdling —
„Weil ihr ſo ſchweiniſch ausſeht! “ — war des Geiſtlichen Antwort — und des Fremdlings Er-
wiederung: „Das war ich mir wohl nicht von Jhnen vermuthend!“ — „So wenig ohne Zweifel,
antwortete der Geiſtliche, „als ich von einem Chriſten vermuthen kann, er kenne die Wuͤrde der
„menſchlichen Natur und Geſtalt ſo wenig, daß er ihr nicht Rath und Ehre anthun mag. Rein-
„lichkeit iſt freylich kein Beweis von Chriſtenthum — aber ſelbſt verſchuldete Unreinlichkeit iſt ein
„ſicherer Beweis von Unchriſtenthum. — Reinlichkeit eines Gemaͤhldes iſt kein Beweis, daß der
„Mahler oder Beſitzer Kenner ſey; aber ein gewiſſer Beweis, daß er’s nicht iſt, wenn er ein Mei-
„ſterſtuͤck beſtauben, und von Feuchtigkeit verderben laͤßt.“
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„Jch will des Todes ſeyn“ — ſagte Bruder Tazitus zum Bruder Titus — von einem
Geiſtlichen, den er auf ſeinen Reiſen ſah, „ich will des Todes ſeyn, wenn der nicht ein Erzſchurk
„iſt — dreymal ſah ich ihn auf der Kanzel weinen und ſchluchzen, wo gar nichts zu weinen war,
„und zehnmal mit einem unverheelbaren Laͤcheln ſich auf die Seite wenden, wenn von einem Un-
„gluͤcke die Rede war.“
5.
„Wie viel Thaler iſt mein Geſicht werth?“ fragte ein Unbekannter einen Phyſiognomiſten —
der antwortete, wie natuͤrlich, „das waͤre ſchwer zu beſtimmen“ — „Funfzehnhundert — ſagte
der Frager — „denn ſo viel lieh mir jemand, dem ich gaͤnzlich unbekannt war, auf mein bloßes
„Geſicht.“ —
6.
Ein noch lebender großer Mahler in England, von feinem phyſiognomiſchem Sinn und
wunderlichem Charakter, ſollte eine ſehr vornehme ihm gaͤnzlich unbekannte Dame, die einen herz-
lich ſchlechten Charakter hatte, mahlen. Die Dame wußte, wie ſchwer es war, ſich von ihm mah-
len zu laſſen. Große Leute und große Anerbietungen ſollten alſo den Mahler dazu bereden —
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/128>, abgerufen am 24.11.2024.
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