Auch in der bloß erträglichen Copie -- wie viel Geist, Jnnigkeit, Salbung? Salbung? was ist das? -- O wie gut und lieblich ist's, wenn Brüder einträchtig bey einander wohnen -- wie der köst- liche Balsam, ausgegossen aufs Haupt, herabfließt in den Bart, ja in den Bart Aarons, herab- fließt bis zum Saume seiner Kleider -- -- Verstehen wir nun, was Salbung ist -- Ein Gesicht voll Salbung? Ein Gesicht gut und lieblich -- aber noch mehr, als dieß -- Ein Gesicht, das Geist, Kraft, Leben, Erquickung ausduftet, das anzieht, wie der lieblichsten Salbe alldurchdringender Wohlgeruch! Man kann die Lieblichkeit des Gesichtes sehen, empfinden die sanfte Macht der An- ziehung -- aber wer kann sie beschreiben? Wer beschreiben den Wohlgeruch des Salböls ausgegos- sen aufs Haupt, sanft herabtriefend bis zum Saume des Kleides Aarons? Es ist dem kalten, geist- und kraftleeren Gesichte, von dem sich alles sagen, der kleinste Zug beschreiben und bestimmen läßt, entgegen. -- So das Gesicht, das wir vor uns haben, wenigstens zum Theil. --
Zuerst -- das Ganze -- welche ruhige, einfache, denkende Stellung! -- wie würdig eines Mitgenossen an der Trübsal und an dem Reiche Christus -- der eben den Giftbecher trin- ken soll -- wie kunstlos! wie wahr, und wie erhaben! keine Befremdung! kein Zurückbeben! kein seufzendes Fragen -- "und bessers hab' ich nicht verdienet?" -- Das Staunen der tieffühlenden Einfalt -- voll großer Gedanken -- wer bemerkt's nicht? -- Jch lobe das Auge nicht ganz. Die Falten überm obern Augenliede -- die Entfernung der sehr gemein und ohne Gefühl oder Studium gezeichneten Augenbraunen -- kann ich nicht billigen, geschweige loben. Dennoch hat der Blick ein unbeschreiblich schickliches Staunen -- "wenn sie etwas tödtliches trinken werden, wird es sie "nicht schädigen." -- "Jhr werdet den Kelch trinken, den ich trinke -- und mit der Taufe, womit "ich getauft werden soll, getauft werden." -- "So ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme?" -- "Doch sagte Jesus nicht: Er stirbt nicht, sondern, so ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme; -- "was geht's dich an? -- -- Mir scheint's -- diese Gedanken, diese Worte des Meisters, die so viel mehr in sich fassen, als sie beym ersten Anhören in sich zu fassen scheinen -- beschäfftigen die ganze edle, ruhige Seele des erhabenen -- warum bloß Mannes, und nicht Greises? --
Die
Religioͤſe, Schwaͤrmer, Theoſophen, Seher.
Fuͤnfte Tafel. Johannes nach Vandyk. Ein Umriß.
Auch in der bloß ertraͤglichen Copie — wie viel Geiſt, Jnnigkeit, Salbung? Salbung? was iſt das? — O wie gut und lieblich iſt’s, wenn Bruͤder eintraͤchtig bey einander wohnen — wie der koͤſt- liche Balſam, ausgegoſſen aufs Haupt, herabfließt in den Bart, ja in den Bart Aarons, herab- fließt bis zum Saume ſeiner Kleider — — Verſtehen wir nun, was Salbung iſt — Ein Geſicht voll Salbung? Ein Geſicht gut und lieblich — aber noch mehr, als dieß — Ein Geſicht, das Geiſt, Kraft, Leben, Erquickung ausduftet, das anzieht, wie der lieblichſten Salbe alldurchdringender Wohlgeruch! Man kann die Lieblichkeit des Geſichtes ſehen, empfinden die ſanfte Macht der An- ziehung — aber wer kann ſie beſchreiben? Wer beſchreiben den Wohlgeruch des Salboͤls ausgegoſ- ſen aufs Haupt, ſanft herabtriefend bis zum Saume des Kleides Aarons? Es iſt dem kalten, geiſt- und kraftleeren Geſichte, von dem ſich alles ſagen, der kleinſte Zug beſchreiben und beſtimmen laͤßt, entgegen. — So das Geſicht, das wir vor uns haben, wenigſtens zum Theil. —
Zuerſt — das Ganze — welche ruhige, einfache, denkende Stellung! — wie wuͤrdig eines Mitgenoſſen an der Truͤbſal und an dem Reiche Chriſtus — der eben den Giftbecher trin- ken ſoll — wie kunſtlos! wie wahr, und wie erhaben! keine Befremdung! kein Zuruͤckbeben! kein ſeufzendes Fragen — „und beſſers hab’ ich nicht verdienet?“ — Das Staunen der tieffuͤhlenden Einfalt — voll großer Gedanken — wer bemerkt’s nicht? — Jch lobe das Auge nicht ganz. Die Falten uͤberm obern Augenliede — die Entfernung der ſehr gemein und ohne Gefuͤhl oder Studium gezeichneten Augenbraunen — kann ich nicht billigen, geſchweige loben. Dennoch hat der Blick ein unbeſchreiblich ſchickliches Staunen — „wenn ſie etwas toͤdtliches trinken werden, wird es ſie „nicht ſchaͤdigen.“ — „Jhr werdet den Kelch trinken, den ich trinke — und mit der Taufe, womit „ich getauft werden ſoll, getauft werden.“ — „So ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme?“ — „Doch ſagte Jeſus nicht: Er ſtirbt nicht, ſondern, ſo ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme; — „was geht’s dich an? — — Mir ſcheint’s — dieſe Gedanken, dieſe Worte des Meiſters, die ſo viel mehr in ſich faſſen, als ſie beym erſten Anhoͤren in ſich zu faſſen ſcheinen — beſchaͤfftigen die ganze edle, ruhige Seele des erhabenen — warum bloß Mannes, und nicht Greiſes? —
Die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0515"n="287"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Religioͤſe, Schwaͤrmer, Theoſophen, Seher.</hi></fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#fr"><hirendition="#g">Fuͤnfte Tafel.<lb/>
Johannes nach Vandyk. Ein Umriß.</hi></hi></head><lb/><p><hirendition="#in">A</hi>uch in der bloß ertraͤglichen Copie — wie viel Geiſt, Jnnigkeit, Salbung? Salbung? was iſt<lb/>
das? — O wie gut und lieblich iſt’s, wenn Bruͤder eintraͤchtig bey einander wohnen — wie der koͤſt-<lb/>
liche Balſam, ausgegoſſen aufs Haupt, herabfließt in den Bart, ja in den Bart Aarons, herab-<lb/>
fließt bis zum Saume ſeiner Kleider —— Verſtehen wir nun, was Salbung iſt — Ein Geſicht<lb/>
voll Salbung? Ein Geſicht gut und lieblich — aber noch mehr, als dieß — Ein Geſicht, das Geiſt,<lb/>
Kraft, Leben, Erquickung ausduftet, das anzieht, wie der lieblichſten Salbe alldurchdringender<lb/>
Wohlgeruch! Man kann die Lieblichkeit des Geſichtes ſehen, empfinden die ſanfte Macht der An-<lb/>
ziehung — aber wer kann ſie beſchreiben? Wer beſchreiben den Wohlgeruch des Salboͤls ausgegoſ-<lb/>ſen aufs Haupt, ſanft herabtriefend bis zum Saume des Kleides Aarons? Es iſt dem kalten, geiſt-<lb/>
und kraftleeren Geſichte, von dem ſich alles ſagen, der kleinſte Zug beſchreiben und beſtimmen laͤßt,<lb/>
entgegen. — So das Geſicht, das wir vor uns haben, wenigſtens zum Theil. —</p><lb/><p>Zuerſt — das Ganze — welche ruhige, einfache, denkende Stellung! — wie wuͤrdig eines<lb/><hirendition="#fr">Mitgenoſſen an der Truͤbſal und an dem Reiche Chriſtus</hi>— der eben den Giftbecher trin-<lb/>
ken ſoll — wie kunſtlos! wie wahr, und wie erhaben! keine Befremdung! kein Zuruͤckbeben! kein<lb/>ſeufzendes Fragen —„und beſſers hab’ ich nicht verdienet?“— Das Staunen der tieffuͤhlenden<lb/>
Einfalt — voll großer Gedanken — wer bemerkt’s nicht? — Jch lobe das Auge nicht ganz. Die<lb/>
Falten uͤberm obern Augenliede — die Entfernung der ſehr gemein und ohne Gefuͤhl oder Studium<lb/>
gezeichneten Augenbraunen — kann ich nicht billigen, geſchweige loben. Dennoch hat der Blick<lb/>
ein unbeſchreiblich ſchickliches Staunen —„wenn ſie etwas toͤdtliches trinken werden, wird es ſie<lb/>„nicht ſchaͤdigen.“—„Jhr werdet den Kelch trinken, den ich trinke — und mit der Taufe, womit<lb/>„ich getauft werden ſoll, getauft werden.“—„So ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme?“—<lb/>„Doch ſagte Jeſus nicht: Er ſtirbt nicht, ſondern, ſo ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme; —<lb/>„was geht’s dich an? —— Mir ſcheint’s — dieſe Gedanken, dieſe Worte des Meiſters, die ſo viel<lb/>
mehr in ſich faſſen, als ſie beym erſten Anhoͤren in ſich zu faſſen ſcheinen — beſchaͤfftigen die ganze<lb/>
edle, ruhige Seele des erhabenen — warum bloß Mannes, und nicht Greiſes? —</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Die</fw><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[287/0515]
Religioͤſe, Schwaͤrmer, Theoſophen, Seher.
Fuͤnfte Tafel.
Johannes nach Vandyk. Ein Umriß.
Auch in der bloß ertraͤglichen Copie — wie viel Geiſt, Jnnigkeit, Salbung? Salbung? was iſt
das? — O wie gut und lieblich iſt’s, wenn Bruͤder eintraͤchtig bey einander wohnen — wie der koͤſt-
liche Balſam, ausgegoſſen aufs Haupt, herabfließt in den Bart, ja in den Bart Aarons, herab-
fließt bis zum Saume ſeiner Kleider — — Verſtehen wir nun, was Salbung iſt — Ein Geſicht
voll Salbung? Ein Geſicht gut und lieblich — aber noch mehr, als dieß — Ein Geſicht, das Geiſt,
Kraft, Leben, Erquickung ausduftet, das anzieht, wie der lieblichſten Salbe alldurchdringender
Wohlgeruch! Man kann die Lieblichkeit des Geſichtes ſehen, empfinden die ſanfte Macht der An-
ziehung — aber wer kann ſie beſchreiben? Wer beſchreiben den Wohlgeruch des Salboͤls ausgegoſ-
ſen aufs Haupt, ſanft herabtriefend bis zum Saume des Kleides Aarons? Es iſt dem kalten, geiſt-
und kraftleeren Geſichte, von dem ſich alles ſagen, der kleinſte Zug beſchreiben und beſtimmen laͤßt,
entgegen. — So das Geſicht, das wir vor uns haben, wenigſtens zum Theil. —
Zuerſt — das Ganze — welche ruhige, einfache, denkende Stellung! — wie wuͤrdig eines
Mitgenoſſen an der Truͤbſal und an dem Reiche Chriſtus — der eben den Giftbecher trin-
ken ſoll — wie kunſtlos! wie wahr, und wie erhaben! keine Befremdung! kein Zuruͤckbeben! kein
ſeufzendes Fragen — „und beſſers hab’ ich nicht verdienet?“ — Das Staunen der tieffuͤhlenden
Einfalt — voll großer Gedanken — wer bemerkt’s nicht? — Jch lobe das Auge nicht ganz. Die
Falten uͤberm obern Augenliede — die Entfernung der ſehr gemein und ohne Gefuͤhl oder Studium
gezeichneten Augenbraunen — kann ich nicht billigen, geſchweige loben. Dennoch hat der Blick
ein unbeſchreiblich ſchickliches Staunen — „wenn ſie etwas toͤdtliches trinken werden, wird es ſie
„nicht ſchaͤdigen.“ — „Jhr werdet den Kelch trinken, den ich trinke — und mit der Taufe, womit
„ich getauft werden ſoll, getauft werden.“ — „So ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme?“ —
„Doch ſagte Jeſus nicht: Er ſtirbt nicht, ſondern, ſo ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme; —
„was geht’s dich an? — — Mir ſcheint’s — dieſe Gedanken, dieſe Worte des Meiſters, die ſo viel
mehr in ſich faſſen, als ſie beym erſten Anhoͤren in ſich zu faſſen ſcheinen — beſchaͤfftigen die ganze
edle, ruhige Seele des erhabenen — warum bloß Mannes, und nicht Greiſes? —
Die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/515>, abgerufen am 23.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.