Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.XV. Fragment. Funfzehntes Fragment. Der Physiognomist. Jeder Mensch hat Anlage zu allem; und dennoch läßt sich sicherlich behaupten, daß er zu sehr Alle Menschen haben Anlagen zur Zeichnungskunst, denn alle können gut oder schlecht Alle Menschen in der Welt, die Augen und Ohren haben, haben Anlagen zur Physiogno- Es wird also wohl einiger Untersuchung werth seyn -- "wer keine, wer große Anla- Jch wünschte sehr, daß mir dieses Fragment vor allen andern gelingen möchte, weil mir Keiner ohne gute Bildung wird ein guter Physiognomiste werden. Die schönsten Mah- Wie
XV. Fragment. Funfzehntes Fragment. Der Phyſiognomiſt. Jeder Menſch hat Anlage zu allem; und dennoch laͤßt ſich ſicherlich behaupten, daß er zu ſehr Alle Menſchen haben Anlagen zur Zeichnungskunſt, denn alle koͤnnen gut oder ſchlecht Alle Menſchen in der Welt, die Augen und Ohren haben, haben Anlagen zur Phyſiogno- Es wird alſo wohl einiger Unterſuchung werth ſeyn — „wer keine, wer große Anla- Jch wuͤnſchte ſehr, daß mir dieſes Fragment vor allen andern gelingen moͤchte, weil mir Keiner ohne gute Bildung wird ein guter Phyſiognomiſte werden. Die ſchoͤnſten Mah- Wie
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XV. Fragment.
Funfzehntes Fragment.
Der Phyſiognomiſt.
Jeder Menſch hat Anlage zu allem; und dennoch laͤßt ſich ſicherlich behaupten, daß er zu ſehr
wenigem beſondere Anlage habe.
Alle Menſchen haben Anlagen zur Zeichnungskunſt, denn alle koͤnnen gut oder ſchlecht
ſchreiben lernen. Aber unter zehentauſenden wird nicht Einer ein guter Zeichner. So mit der
Beredtſamkeit und Dichtkunſt. So mit der Phyſiognomik.
Alle Menſchen in der Welt, die Augen und Ohren haben, haben Anlagen zur Phyſiogno-
mik. Aber unter zehentauſenden wird nicht Einer ein guter Phyſiognomiſt werden.
Es wird alſo wohl einiger Unterſuchung werth ſeyn — „wer keine, wer große Anla-
„gen habe, Phyſiognomiſt zu werden, — mithin ein Bild des wahren Phyſiognomiſten zu
„entwerfen.“ —
Jch wuͤnſchte ſehr, daß mir dieſes Fragment vor allen andern gelingen moͤchte, weil mir
unendlich viel daran liegt, jeden von dem eigentlichen Studium der Phyſiognomik wegzuſchrecken,
der nicht vorzuͤgliche Anlagen und Talente dazu hat. Ein Afterphyſiognomiſt mit ſchlechtem Kopf
und ſchlimmen Herzen, iſt wohl das veraͤchtlichſte und ſchaͤdlichſte Geſchoͤpfe, das auf Gottes
Erdboden kriecht.
Keiner ohne gute Bildung wird ein guter Phyſiognomiſte werden. Die ſchoͤnſten Mah-
ler wurden die groͤßten Mahler. Rubens, Vandyk, Raphael, drey Stufen von Maͤnner-
ſchoͤnheit! drey Stufen mahleriſchen Genies! Die wohlgebildetſten Phyſiognomiſten — die be-
ſten. So wie die Tugendhafteſten am beſten uͤber Tugend, die Gerechten am beſten uͤber Ge-
rechtigkeit urtheilen koͤnnen, ſo die beſten Geſichter am beſten uͤber das Gute, Schoͤne, und Edle
der menſchlichen Geſichter, mithin auch, wie ſchon bemerkt worden, uͤber das Unedle und Man-
gelhafte. Die Seltenheit wohlgebildeter Menſchen iſt ſicherlich ein Grund, warum die Phy-
ſiognomik in einem ſo uͤbeln Rufe ſteht, und ſo vielen Bezweifelungen ausgeſetzt iſt.
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/238>, abgerufen am 22.02.2025. |