Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.Vierzehntes Fragment. Vom Schaden der Physiognomik. "Odu, der du sonst ein Freund der Religion und der Tugend bist, was machst du da?" -- hör ich "O! du sprichst von dem Nutzen deiner Physiognomik, daß du die Menschen Schönheit des Jch Y 2
Vierzehntes Fragment. Vom Schaden der Phyſiognomik. „Odu, der du ſonſt ein Freund der Religion und der Tugend biſt, was machſt du da?“ — hoͤr ich „O! du ſprichſt von dem Nutzen deiner Phyſiognomik, daß du die Menſchen Schoͤnheit des Jch Y 2
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0231" n="163"/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Vierzehntes Fragment.<lb/><hi rendition="#g">Vom Schaden der Phyſiognomik</hi>.</hi> </head><lb/> <p>„<hi rendition="#in">O</hi>du, der du ſonſt ein Freund der Religion und der Tugend biſt, was machſt du da?“ — hoͤr ich<lb/> mir eine redliche Seele entgegen rufen! — „O wie viel Unheil wirſt du ſtiften mit deiner<lb/> „Phyſiognomik? Du willſt den Menſchen die unſelige Kunſt lehren, ſeinen Bruder auch aus jeder<lb/> „zweydeutigen Miene zu richten? des Splitterrichtens, der Tadelſucht, des Auflaurens auf anderer<lb/> „Mistritte ſoll noch nicht genug ſeyn? Du willſt die Menſchen auch noch lehren auflauren auf des<lb/> „Herzens Geheimniſſe, die tiefſten Fehler, auf jeden Mistritt der Gedanken? — Sieh von nun an,<lb/> „mit ſcharfem Blick — mit bewaffnetem Auge uͤberall nur Beobachter! Nur Phyſiognomienbeob-<lb/> „achter in Geſellſchaften — bey Leichenbegaͤngniſſen — in der Kirche — wo ſie hin kommen, dieſe<lb/> „Beobachter, ſie hoͤren nichts mehr, empfinden nichts, nehmen an nichts Antheil; ſie beobachten<lb/> „nur Phyſiognomien, belauſchen nur Herzen; dieſe alle haſt du, hat dein Werk entzuͤndet — und<lb/> „es flammt und wuͤtet in ihnen, das unreine Feuer der Richter- und Tadelſucht, und verzehrt jeden<lb/> „Reſt von Tugend und Menſchenliebe in ihrem Herzen!“</p><lb/> <p>„O! du ſprichſt von dem Nutzen deiner Phyſiognomik, daß du die Menſchen Schoͤnheit des<lb/> „Ausdrucks der Tugend, und der Haͤßlichkeit des Laſters erkennen und fuͤhlen lehreſt, und ſie ſo<lb/> „zur Tugend reizeſt? ſie mit Abſcheu vor dem Laſter auch durch das Gefuͤhl ſeiner aͤußerlichen<lb/> „Haͤßlichkeit erfuͤlleſt? — Dieß kaͤme alſo, genauer betrachtet, auf das hinaus; daß der Menſch<lb/> „ſoll lernen gut werden, damit er gut ſcheine? daß das ſo ſchon eitle Geſchoͤpf, das gern immer nur<lb/> „um Lob handelt, gern immer nur <hi rendition="#fr">ſcheint,</hi> was es <hi rendition="#fr">ſeyn</hi> ſollte, noch eitler werde — nicht nur<lb/> „mit jeder That und jedem Worte, ſondern ſelbſt noch mit Mienen, jeglicher Miene, um Hochach-<lb/> „tung und Liebe — und Lob der Menſchen — buhle? Statt dieſe nur allzumaͤchtige Trieb-<lb/> „feder menſchlicher Handlungen zu ſchwaͤchen, und eine beſſere zu ſtaͤrken; ſtatt den Menſchen<lb/> „in ſich zu weiſen — ſein Jnnwendiges zu beſſern, ihn zu lehren, in Stille gut ſeyn, und<lb/> „unſchuldig — ohne uͤber den ſchoͤnen Ausdruck des Guten, des Haͤßlichen, des Boͤſen mit ihm<lb/> „zu raͤſonniren.“ — —</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig">Y 2</fw> <fw place="bottom" type="catch">Jch</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [163/0231]
Vierzehntes Fragment.
Vom Schaden der Phyſiognomik.
„Odu, der du ſonſt ein Freund der Religion und der Tugend biſt, was machſt du da?“ — hoͤr ich
mir eine redliche Seele entgegen rufen! — „O wie viel Unheil wirſt du ſtiften mit deiner
„Phyſiognomik? Du willſt den Menſchen die unſelige Kunſt lehren, ſeinen Bruder auch aus jeder
„zweydeutigen Miene zu richten? des Splitterrichtens, der Tadelſucht, des Auflaurens auf anderer
„Mistritte ſoll noch nicht genug ſeyn? Du willſt die Menſchen auch noch lehren auflauren auf des
„Herzens Geheimniſſe, die tiefſten Fehler, auf jeden Mistritt der Gedanken? — Sieh von nun an,
„mit ſcharfem Blick — mit bewaffnetem Auge uͤberall nur Beobachter! Nur Phyſiognomienbeob-
„achter in Geſellſchaften — bey Leichenbegaͤngniſſen — in der Kirche — wo ſie hin kommen, dieſe
„Beobachter, ſie hoͤren nichts mehr, empfinden nichts, nehmen an nichts Antheil; ſie beobachten
„nur Phyſiognomien, belauſchen nur Herzen; dieſe alle haſt du, hat dein Werk entzuͤndet — und
„es flammt und wuͤtet in ihnen, das unreine Feuer der Richter- und Tadelſucht, und verzehrt jeden
„Reſt von Tugend und Menſchenliebe in ihrem Herzen!“
„O! du ſprichſt von dem Nutzen deiner Phyſiognomik, daß du die Menſchen Schoͤnheit des
„Ausdrucks der Tugend, und der Haͤßlichkeit des Laſters erkennen und fuͤhlen lehreſt, und ſie ſo
„zur Tugend reizeſt? ſie mit Abſcheu vor dem Laſter auch durch das Gefuͤhl ſeiner aͤußerlichen
„Haͤßlichkeit erfuͤlleſt? — Dieß kaͤme alſo, genauer betrachtet, auf das hinaus; daß der Menſch
„ſoll lernen gut werden, damit er gut ſcheine? daß das ſo ſchon eitle Geſchoͤpf, das gern immer nur
„um Lob handelt, gern immer nur ſcheint, was es ſeyn ſollte, noch eitler werde — nicht nur
„mit jeder That und jedem Worte, ſondern ſelbſt noch mit Mienen, jeglicher Miene, um Hochach-
„tung und Liebe — und Lob der Menſchen — buhle? Statt dieſe nur allzumaͤchtige Trieb-
„feder menſchlicher Handlungen zu ſchwaͤchen, und eine beſſere zu ſtaͤrken; ſtatt den Menſchen
„in ſich zu weiſen — ſein Jnnwendiges zu beſſern, ihn zu lehren, in Stille gut ſeyn, und
„unſchuldig — ohne uͤber den ſchoͤnen Ausdruck des Guten, des Haͤßlichen, des Boͤſen mit ihm
„zu raͤſonniren.“ — —
Jch
Y 2
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |