Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833.

Bild:
<< vorherige Seite
28.
Valerius an Constantin.

Meine Kräfte sind in diesem Augenblick zu ge¬
schwächt, als daß ich Deinen Brief sorgfältig einzeln und
umfassend beantworten könnte. Es ist ein trüber Nebel¬
tag, den Du mir geschickt, Freund. Jeder gewissenhafte
Mensch zweifelt zuweilen an den Wahrheiten, die sein
Leben leiten und zusammenhalten. Du bist in einer be¬
denklichen Krisis, und ich fürchte, die Jugend Deines
Geistes und Herzens geht darin zu Grunde; ich fürchte,
Du wirst in Kurzem ein alter Mann sein, die Jugend
irrt allerdings mehr als das Alter, aber sie ist Poesie
und Leben; ein grüner Irrthum ist schöner als ein ver¬
trocknetes richtiges Wort. Die Natur wechselt, das Bild
bleibt unverändert -- willst Du den gemalten Frühling
dem natürlich knospenden und grünenden vorziehn, weil
jener unverändert derselbe bleibt? All' solche Krisen und
Reactionen kommen von einer mangelhaften Geschichtsauf¬
fassung, von der Minuten- und Tagsgeschichte -- jene Wis¬
senschaft aller Wissenschaften zählt aber nach Jahrhunderten.
Jeder große Mann bringt Tausenden Tod, um Millionen

28.
Valerius an Constantin.

Meine Kräfte ſind in dieſem Augenblick zu ge¬
ſchwächt, als daß ich Deinen Brief ſorgfältig einzeln und
umfaſſend beantworten könnte. Es iſt ein trüber Nebel¬
tag, den Du mir geſchickt, Freund. Jeder gewiſſenhafte
Menſch zweifelt zuweilen an den Wahrheiten, die ſein
Leben leiten und zuſammenhalten. Du biſt in einer be¬
denklichen Kriſis, und ich fürchte, die Jugend Deines
Geiſtes und Herzens geht darin zu Grunde; ich fürchte,
Du wirſt in Kurzem ein alter Mann ſein, die Jugend
irrt allerdings mehr als das Alter, aber ſie iſt Poeſie
und Leben; ein grüner Irrthum iſt ſchöner als ein ver¬
trocknetes richtiges Wort. Die Natur wechſelt, das Bild
bleibt unverändert — willſt Du den gemalten Frühling
dem natürlich knospenden und grünenden vorziehn, weil
jener unverändert derſelbe bleibt? All' ſolche Kriſen und
Reactionen kommen von einer mangelhaften Geſchichtsauf¬
faſſung, von der Minuten- und Tagsgeſchichte — jene Wiſ¬
ſenſchaft aller Wiſſenſchaften zählt aber nach Jahrhunderten.
Jeder große Mann bringt Tauſenden Tod, um Millionen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0107" n="95"/>
      </div>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">28.</hi><lb/> <hi rendition="#b #g">Valerius an Constantin.</hi><lb/>
        </head>
        <p>Meine Kräfte &#x017F;ind in die&#x017F;em Augenblick zu ge¬<lb/>
&#x017F;chwächt, als daß ich Deinen Brief &#x017F;orgfältig einzeln und<lb/>
umfa&#x017F;&#x017F;end beantworten könnte. Es i&#x017F;t ein trüber Nebel¬<lb/>
tag, den Du mir ge&#x017F;chickt, Freund. Jeder gewi&#x017F;&#x017F;enhafte<lb/>
Men&#x017F;ch zweifelt zuweilen an den Wahrheiten, die &#x017F;ein<lb/>
Leben leiten und zu&#x017F;ammenhalten. Du bi&#x017F;t in einer be¬<lb/>
denklichen Kri&#x017F;is, und ich fürchte, die Jugend Deines<lb/>
Gei&#x017F;tes und Herzens geht darin zu Grunde; ich fürchte,<lb/>
Du wir&#x017F;t in Kurzem ein alter Mann &#x017F;ein, die Jugend<lb/>
irrt allerdings mehr als das Alter, aber &#x017F;ie i&#x017F;t Poe&#x017F;ie<lb/>
und Leben; ein grüner Irrthum i&#x017F;t &#x017F;chöner als ein ver¬<lb/>
trocknetes richtiges Wort. Die Natur wech&#x017F;elt, das Bild<lb/>
bleibt unverändert &#x2014; will&#x017F;t Du den gemalten Frühling<lb/>
dem natürlich knospenden und grünenden vorziehn, weil<lb/>
jener unverändert der&#x017F;elbe bleibt? All' &#x017F;olche Kri&#x017F;en und<lb/>
Reactionen kommen von einer mangelhaften Ge&#x017F;chichtsauf¬<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ung, von der Minuten- und Tagsge&#x017F;chichte &#x2014; jene Wi&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en&#x017F;chaft aller Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften zählt aber nach Jahrhunderten.<lb/>
Jeder große Mann bringt Tau&#x017F;enden Tod, um Millionen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0107] 28. Valerius an Constantin. Meine Kräfte ſind in dieſem Augenblick zu ge¬ ſchwächt, als daß ich Deinen Brief ſorgfältig einzeln und umfaſſend beantworten könnte. Es iſt ein trüber Nebel¬ tag, den Du mir geſchickt, Freund. Jeder gewiſſenhafte Menſch zweifelt zuweilen an den Wahrheiten, die ſein Leben leiten und zuſammenhalten. Du biſt in einer be¬ denklichen Kriſis, und ich fürchte, die Jugend Deines Geiſtes und Herzens geht darin zu Grunde; ich fürchte, Du wirſt in Kurzem ein alter Mann ſein, die Jugend irrt allerdings mehr als das Alter, aber ſie iſt Poeſie und Leben; ein grüner Irrthum iſt ſchöner als ein ver¬ trocknetes richtiges Wort. Die Natur wechſelt, das Bild bleibt unverändert — willſt Du den gemalten Frühling dem natürlich knospenden und grünenden vorziehn, weil jener unverändert derſelbe bleibt? All' ſolche Kriſen und Reactionen kommen von einer mangelhaften Geſchichtsauf¬ faſſung, von der Minuten- und Tagsgeſchichte — jene Wiſ¬ ſenſchaft aller Wiſſenſchaften zählt aber nach Jahrhunderten. Jeder große Mann bringt Tauſenden Tod, um Millionen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833/107
Zitationshilfe: Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833/107>, abgerufen am 21.11.2024.