dentlichen Verlauf nähmen. Dem Kinde war der Unterschied zwischen gut und böse oder viel¬ mehr zwischen wahrer und falscher Sachlage nicht bewußt und völlig gleichgültig; die Erwachsenen hatten jenen Handel unvernünftig eingeleitet, das Kind hatte nichts zu thun, als da ihm die wirk¬ liche Gerechtigkeit verborgen war, eine poetische Gerechtigkeit herzustellen und dazu erst einen or¬ dentlichen faktischen Stoff zu schaffen. Auch er¬ innerte er sich noch heute, daß er damals ohne die mindesten Gewissensbisse und mit dem unbe¬ fangensten Interesse dem angerichteten Schaden zugesehen. Gedachte er nun noch, wie er um die gleiche Zeit sich Bilder von Wachs gemacht und eine tabellarische Schicksals- und Gerechtigkeits¬ ordnung über sie geführt, so schien es ihm jetzt beinahe gewiß, daß in ihm mehr als alles Andere eigentlich eine Lust läge, im lebendigen Wechselverkehr der Menschen, auf vertrautem Boden und in fest¬ begründeten Sitten das Leben selbst zum Gegen¬ stande des Lebens zu machen.
Mit diesen tüchtigen Gedanken stand Heinrich auf und sah, daß er sich über einem Thale be¬
dentlichen Verlauf naͤhmen. Dem Kinde war der Unterſchied zwiſchen gut und boͤſe oder viel¬ mehr zwiſchen wahrer und falſcher Sachlage nicht bewußt und voͤllig gleichguͤltig; die Erwachſenen hatten jenen Handel unvernuͤnftig eingeleitet, das Kind hatte nichts zu thun, als da ihm die wirk¬ liche Gerechtigkeit verborgen war, eine poetiſche Gerechtigkeit herzuſtellen und dazu erſt einen or¬ dentlichen faktiſchen Stoff zu ſchaffen. Auch er¬ innerte er ſich noch heute, daß er damals ohne die mindeſten Gewiſſensbiſſe und mit dem unbe¬ fangenſten Intereſſe dem angerichteten Schaden zugeſehen. Gedachte er nun noch, wie er um die gleiche Zeit ſich Bilder von Wachs gemacht und eine tabellariſche Schickſals- und Gerechtigkeits¬ ordnung uͤber ſie gefuͤhrt, ſo ſchien es ihm jetzt beinahe gewiß, daß in ihm mehr als alles Andere eigentlich eine Luſt laͤge, im lebendigen Wechſelverkehr der Menſchen, auf vertrautem Boden und in feſt¬ begruͤndeten Sitten das Leben ſelbſt zum Gegen¬ ſtande des Lebens zu machen.
Mit dieſen tuͤchtigen Gedanken ſtand Heinrich auf und ſah, daß er ſich uͤber einem Thale be¬
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dentlichen Verlauf naͤhmen. Dem Kinde war
der Unterſchied zwiſchen gut und boͤſe oder viel¬
mehr zwiſchen wahrer und falſcher Sachlage nicht
bewußt und voͤllig gleichguͤltig; die Erwachſenen
hatten jenen Handel unvernuͤnftig eingeleitet, das
Kind hatte nichts zu thun, als da ihm die wirk¬
liche Gerechtigkeit verborgen war, eine poetiſche
Gerechtigkeit herzuſtellen und dazu erſt einen or¬
dentlichen faktiſchen Stoff zu ſchaffen. Auch er¬
innerte er ſich noch heute, daß er damals ohne
die mindeſten Gewiſſensbiſſe und mit dem unbe¬
fangenſten Intereſſe dem angerichteten Schaden
zugeſehen. Gedachte er nun noch, wie er um die
gleiche Zeit ſich Bilder von Wachs gemacht und
eine tabellariſche Schickſals- und Gerechtigkeits¬
ordnung uͤber ſie gefuͤhrt, ſo ſchien es ihm jetzt
beinahe gewiß, daß in ihm mehr als alles Andere
eigentlich eine Luſt laͤge, im lebendigen Wechſelverkehr
der Menſchen, auf vertrautem Boden und in feſt¬
begruͤndeten Sitten das Leben ſelbſt zum Gegen¬
ſtande des Lebens zu machen.
Mit dieſen tuͤchtigen Gedanken ſtand Heinrich
auf und ſah, daß er ſich uͤber einem Thale be¬
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/300>, abgerufen am 27.04.2024.
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