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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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müssen glaubt und im Allgemeinen bei allen
Andersdenkenden einen bösen Willen oder Unfähig¬
keit und Unwissenheit vorauszusetzen. Heinrich
aber, welchen nun die Dinge von Grund aus
zu berühren anfingen und welcher sich mit war¬
mer Liebe um das Geheimniß ehrlicher Welt¬
wahrheit bekümmerte, wie sie im Menschen sich
birgt, ihn bewegt oder verläßt, brachte mit un¬
befangener und durchdringender Kraft zur an¬
fänglichen Verwunderung der Anderen die Lebens¬
art auf, Recht- oder Unrechthaben als ganz gleich¬
gültige Dinge zu betrachten und erst ihre Quellen
als einen beachtenswerthen Gegenstand aufzu¬
nehmen, in der höflichen und artigen Voraus¬
setzung, daß es Alle gut meinen und Alle fähig
wären, das Gute einzusehen. Dabei war er,
wenn er sich in's Unrechthaben hineingeredet hatte,
selbst der Erste, welcher darüber nachdachte und
bei kühlerem Blute sich selbst preisgab, die
Sache wieder aufnahm und seinen Irrthum auch
nach den eifrigsten und härtesten Aeußerungen
eingestand und von Neuem untersuchen half, jene
falsche Höflichkeit verdrängend, welche mit dem

muͤſſen glaubt und im Allgemeinen bei allen
Andersdenkenden einen boͤſen Willen oder Unfaͤhig¬
keit und Unwiſſenheit vorauszuſetzen. Heinrich
aber, welchen nun die Dinge von Grund aus
zu beruͤhren anfingen und welcher ſich mit war¬
mer Liebe um das Geheimniß ehrlicher Welt¬
wahrheit bekuͤmmerte, wie ſie im Menſchen ſich
birgt, ihn bewegt oder verlaͤßt, brachte mit un¬
befangener und durchdringender Kraft zur an¬
faͤnglichen Verwunderung der Anderen die Lebens¬
art auf, Recht- oder Unrechthaben als ganz gleich¬
guͤltige Dinge zu betrachten und erſt ihre Quellen
als einen beachtenswerthen Gegenſtand aufzu¬
nehmen, in der hoͤflichen und artigen Voraus¬
ſetzung, daß es Alle gut meinen und Alle faͤhig
waͤren, das Gute einzuſehen. Dabei war er,
wenn er ſich in's Unrechthaben hineingeredet hatte,
ſelbſt der Erſte, welcher daruͤber nachdachte und
bei kuͤhlerem Blute ſich ſelbſt preisgab, die
Sache wieder aufnahm und ſeinen Irrthum auch
nach den eifrigſten und haͤrteſten Aeußerungen
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[146/0156] muͤſſen glaubt und im Allgemeinen bei allen Andersdenkenden einen boͤſen Willen oder Unfaͤhig¬ keit und Unwiſſenheit vorauszuſetzen. Heinrich aber, welchen nun die Dinge von Grund aus zu beruͤhren anfingen und welcher ſich mit war¬ mer Liebe um das Geheimniß ehrlicher Welt¬ wahrheit bekuͤmmerte, wie ſie im Menſchen ſich birgt, ihn bewegt oder verlaͤßt, brachte mit un¬ befangener und durchdringender Kraft zur an¬ faͤnglichen Verwunderung der Anderen die Lebens¬ art auf, Recht- oder Unrechthaben als ganz gleich¬ guͤltige Dinge zu betrachten und erſt ihre Quellen als einen beachtenswerthen Gegenſtand aufzu¬ nehmen, in der hoͤflichen und artigen Voraus¬ ſetzung, daß es Alle gut meinen und Alle faͤhig waͤren, das Gute einzuſehen. Dabei war er, wenn er ſich in's Unrechthaben hineingeredet hatte, ſelbſt der Erſte, welcher daruͤber nachdachte und bei kuͤhlerem Blute ſich ſelbſt preisgab, die Sache wieder aufnahm und ſeinen Irrthum auch nach den eifrigſten und haͤrteſten Aeußerungen eingeſtand und von Neuem unterſuchen half, jene falſche Hoͤflichkeit verdraͤngend, welche mit dem

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/156>, abgerufen am 27.04.2024.