Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite
I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.

Es zeiget sich also in Ansehung des Princips des
Geschmacks folgende Antinomie:

1) Thesis. Das Geschmacksurtheil gründet sich
nicht auf Begriffen; denn sonst ließe sich darüber dispu-
tiren (durch Beweise entscheiden).

2) Antithesis. Das Geschmacksurtheil gründet
sich auf Begriffen; denn sonst ließe sich, unerachtet der
Verschiedenheit desselben, darüber auch nicht einmal strei-
ten (auf die nothwendige Einstimmung anderer mit die-
sem Urtheile Anspruch machen).

§. 57.
Auflösung der Antinomie des Geschmacks.

Es ist keine Möglichkeit den Wiederstreit jener jedem
Geschmacksurtheile untergelegten Principien (welche
nichts anders sind, als die oben in der Analytik vorge-
stellten zwey Eigenthümlichkeiten des Geschmacksurtheils)
zu heben, als daß man zeigt, der Begrif, worauf man
das Object in dieser Art Urtheile bezieht, werde in bey-
den Maximen der ästhetischen Urtheilskraft nicht in
einerley Sinn genommen; dieser zwiefache Sinn, oder
Gesichtspunct, der Beurtheilung sey unserer transscen-
dentalen Urtheilskraft nothwendig, aber auch der
Schein, in der Vermengung des einen mit dem andern,
als natürliche Jllusion, unvermeidlich.

Auf irgend einen Begrif muß sich das Geschmacks-
urtheil beziehen; denn sonst könnte es schlechterdings

P 4
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.

Es zeiget ſich alſo in Anſehung des Princips des
Geſchmacks folgende Antinomie:

1) Theſis. Das Geſchmacksurtheil gruͤndet ſich
nicht auf Begriffen; denn ſonſt ließe ſich daruͤber dispu-
tiren (durch Beweiſe entſcheiden).

2) Antitheſis. Das Geſchmacksurtheil gruͤndet
ſich auf Begriffen; denn ſonſt ließe ſich, unerachtet der
Verſchiedenheit deſſelben, daruͤber auch nicht einmal ſtrei-
ten (auf die nothwendige Einſtimmung anderer mit die-
ſem Urtheile Anſpruch machen).

§. 57.
Aufloͤſung der Antinomie des Geſchmacks.

Es iſt keine Moͤglichkeit den Wiederſtreit jener jedem
Geſchmacksurtheile untergelegten Principien (welche
nichts anders ſind, als die oben in der Analytik vorge-
ſtellten zwey Eigenthuͤmlichkeiten des Geſchmacksurtheils)
zu heben, als daß man zeigt, der Begrif, worauf man
das Object in dieſer Art Urtheile bezieht, werde in bey-
den Maximen der aͤſthetiſchen Urtheilskraft nicht in
einerley Sinn genommen; dieſer zwiefache Sinn, oder
Geſichtspunct, der Beurtheilung ſey unſerer transſcen-
dentalen Urtheilskraft nothwendig, aber auch der
Schein, in der Vermengung des einen mit dem andern,
als natuͤrliche Jlluſion, unvermeidlich.

Auf irgend einen Begrif muß ſich das Geſchmacks-
urtheil beziehen; denn ſonſt koͤnnte es ſchlechterdings

P 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0295" n="231"/>
            <fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
            <p>Es zeiget &#x017F;ich al&#x017F;o in An&#x017F;ehung des Princips des<lb/>
Ge&#x017F;chmacks folgende Antinomie:</p><lb/>
            <p>1) <hi rendition="#fr">The&#x017F;is.</hi> Das Ge&#x017F;chmacksurtheil gru&#x0364;ndet &#x017F;ich<lb/>
nicht auf Begriffen; denn &#x017F;on&#x017F;t ließe &#x017F;ich daru&#x0364;ber dispu-<lb/>
tiren (durch Bewei&#x017F;e ent&#x017F;cheiden).</p><lb/>
            <p>2) <hi rendition="#fr">Antithe&#x017F;is.</hi> Das Ge&#x017F;chmacksurtheil gru&#x0364;ndet<lb/>
&#x017F;ich auf Begriffen; denn &#x017F;on&#x017F;t ließe &#x017F;ich, unerachtet der<lb/>
Ver&#x017F;chiedenheit de&#x017F;&#x017F;elben, daru&#x0364;ber auch nicht einmal &#x017F;trei-<lb/>
ten (auf die nothwendige Ein&#x017F;timmung anderer mit die-<lb/>
&#x017F;em Urtheile An&#x017F;pruch machen).</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">§. 57.<lb/>
Auflo&#x0364;&#x017F;ung der Antinomie des Ge&#x017F;chmacks.</hi> </head><lb/>
            <p>Es i&#x017F;t keine Mo&#x0364;glichkeit den Wieder&#x017F;treit jener jedem<lb/>
Ge&#x017F;chmacksurtheile untergelegten Principien (welche<lb/>
nichts anders &#x017F;ind, als die oben in der Analytik vorge-<lb/>
&#x017F;tellten zwey Eigenthu&#x0364;mlichkeiten des Ge&#x017F;chmacksurtheils)<lb/>
zu heben, als daß man zeigt, der Begrif, worauf man<lb/>
das Object in die&#x017F;er Art Urtheile bezieht, werde in bey-<lb/>
den Maximen der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Urtheilskraft nicht in<lb/>
einerley Sinn genommen; die&#x017F;er zwiefache Sinn, oder<lb/>
Ge&#x017F;ichtspunct, der Beurtheilung &#x017F;ey un&#x017F;erer trans&#x017F;cen-<lb/>
dentalen Urtheilskraft nothwendig, aber auch der<lb/>
Schein, in der Vermengung des einen mit dem andern,<lb/>
als natu&#x0364;rliche Jllu&#x017F;ion, unvermeidlich.</p><lb/>
            <p>Auf irgend einen Begrif muß &#x017F;ich das Ge&#x017F;chmacks-<lb/>
urtheil beziehen; denn &#x017F;on&#x017F;t ko&#x0364;nnte es &#x017F;chlechterdings<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P 4</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[231/0295] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Es zeiget ſich alſo in Anſehung des Princips des Geſchmacks folgende Antinomie: 1) Theſis. Das Geſchmacksurtheil gruͤndet ſich nicht auf Begriffen; denn ſonſt ließe ſich daruͤber dispu- tiren (durch Beweiſe entſcheiden). 2) Antitheſis. Das Geſchmacksurtheil gruͤndet ſich auf Begriffen; denn ſonſt ließe ſich, unerachtet der Verſchiedenheit deſſelben, daruͤber auch nicht einmal ſtrei- ten (auf die nothwendige Einſtimmung anderer mit die- ſem Urtheile Anſpruch machen). §. 57. Aufloͤſung der Antinomie des Geſchmacks. Es iſt keine Moͤglichkeit den Wiederſtreit jener jedem Geſchmacksurtheile untergelegten Principien (welche nichts anders ſind, als die oben in der Analytik vorge- ſtellten zwey Eigenthuͤmlichkeiten des Geſchmacksurtheils) zu heben, als daß man zeigt, der Begrif, worauf man das Object in dieſer Art Urtheile bezieht, werde in bey- den Maximen der aͤſthetiſchen Urtheilskraft nicht in einerley Sinn genommen; dieſer zwiefache Sinn, oder Geſichtspunct, der Beurtheilung ſey unſerer transſcen- dentalen Urtheilskraft nothwendig, aber auch der Schein, in der Vermengung des einen mit dem andern, als natuͤrliche Jlluſion, unvermeidlich. Auf irgend einen Begrif muß ſich das Geſchmacks- urtheil beziehen; denn ſonſt koͤnnte es ſchlechterdings P 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/295
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/295>, abgerufen am 21.12.2024.