Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 4. Berlin, 1960.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich brauche nicht 10 Gassen, um meine Stube zu ertragen, ich bleibe
in dieser und habe die Welt. Meine alten Argonautenzüge nach dem
goldnen Vlies der Weiber haben sich in Kreuzzüge nach dem h. Grab
der Männer verwandelt. Ich gehe kälter neuen Freundinnen ent-
gegen -- und wärmer alten. -- Seine [Bouterweks?] poetische5
Flüssigkeit hat philosophische Ründung gewonnen.

223. An Matzdorff.
[Kopie]

Ich lebe in hohen dichten Blumen fort.

224. An August Ferdinand Bernhardi in Berlin.10

An Sie dacht' ich immer, lieber Bernhardi. Manche Bücher waren
mir Briefe von Ihnen, und manche Kapitel aus meinen meine an Sie.
Ich wolte freilich, ich könte hier im Paradies der Liebe und der Natur,
das ich jezt baue, ackere und geniesse, mit Ihnen disputierend auf und15
abgehen. Unsere Geister-Abende werden mir bleiben.

Ich arbeite hier in meinem dicken Bergwerk fort, ohne viel von
andern Knappen zu hören. Den 3. Theil des Titans volendete ich
eben; ich gewinne eine immer reinere Luft; Sie sollen mit ihm zu-
frieden oder zufriedner sein. Was schreibt Tiek -- Sie -- Fr. Schlegel20
[140]-- Fichte? Ich weis gar nichts. -- Schüler von Ihnen allen schicken
mir oft Mspte und ich helfe allen in die Welt, z. B. Kanne (oder
anonym Bergius). Aber was die meisten -- z. B. Horn -- unrein
macht,*) ist daß sie, anstat eine neue eigne Aera anzufangen aus ihrem
Innersten und etwas darzustellen, blos die falschen Darstellungen dar-25
stellen und ihre ästhetischen Collegia versifizieren und so alle zusammen-
kriechen in ein Betler-Lexikon von Klagen und Poesien über Gemein-
heit, falsche Sentimental[ität], Schwäche etc. Sie streiten, stat zu
zeugen; predigen Busse, anstat gute Werke zu thun. Daher die al-
gemeine Aehnlichkeit ihres Stofs, die schon allein verdamt; jeder neue30
Dichter bringt frischen mit; die Form nicht, aber der Stof komt ewig
neu individualisiert mit jedem genial[ischen] Individuum wieder.

*) Und doch solten Sie Brentano's kräftigen Godwi, den 2. Theil lesen.

Ich brauche nicht 10 Gaſſen, um meine Stube zu ertragen, ich bleibe
in dieſer und habe die Welt. Meine alten Argonautenzüge nach dem
goldnen Vlies der Weiber haben ſich in Kreuzzüge nach dem h. Grab
der Männer verwandelt. Ich gehe kälter neuen Freundinnen ent-
gegen — und wärmer alten. — Seine [Bouterweks?] poetiſche5
Flüſſigkeit hat philoſophiſche Ründung gewonnen.

223. An Matzdorff.
[Kopie]

Ich lebe in hohen dichten Blumen fort.

224. An Auguſt Ferdinand Bernhardi in Berlin.10

An Sie dacht’ ich immer, lieber Bernhardi. Manche Bücher waren
mir Briefe von Ihnen, und manche Kapitel aus meinen meine an Sie.
Ich wolte freilich, ich könte hier im Paradies der Liebe und der Natur,
das ich jezt baue, ackere und genieſſe, mit Ihnen diſputierend auf und15
abgehen. Unſere Geiſter-Abende werden mir bleiben.

Ich arbeite hier in meinem dicken Bergwerk fort, ohne viel von
andern Knappen zu hören. Den 3. Theil des Titans volendete ich
eben; ich gewinne eine immer reinere Luft; Sie ſollen mit ihm zu-
frieden oder zufriedner ſein. Was ſchreibt Tiek — Sie — Fr. Schlegel20
[140]Fichte? Ich weis gar nichts. — Schüler von Ihnen allen ſchicken
mir oft Mſpte und ich helfe allen in die Welt, z. B. Kanne (oder
anonym Bergius). Aber was die meiſten — z. B. Horn — unrein
macht,*) iſt daß ſie, anſtat eine neue eigne Aera anzufangen aus ihrem
Innerſten und etwas darzuſtellen, blos die falſchen Darſtellungen dar-25
ſtellen und ihre äſthetiſchen Collegia verſifizieren und ſo alle zuſammen-
kriechen in ein Betler-Lexikon von Klagen und Poeſien über Gemein-
heit, falſche Sentimental[ität], Schwäche ꝛc. Sie ſtreiten, ſtat zu
zeugen; predigen Buſſe, anſtat gute Werke zu thun. Daher die al-
gemeine Aehnlichkeit ihres Stofs, die ſchon allein verdamt; jeder neue30
Dichter bringt friſchen mit; die Form nicht, aber der Stof komt ewig
neu individualiſiert mit jedem genial[iſchen] Individuum wieder.

*) Und doch ſolten Sie Brentano’s kräftigen Godwi, den 2. Theil leſen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter" n="1">
        <p><pb facs="#f0130" n="124"/>
Ich brauche nicht 10 Ga&#x017F;&#x017F;en, um meine Stube zu ertragen, ich bleibe<lb/>
in die&#x017F;er und habe die Welt. Meine alten Argonautenzüge nach dem<lb/>
goldnen Vlies der Weiber haben &#x017F;ich in Kreuzzüge nach dem h. Grab<lb/>
der Männer verwandelt. Ich gehe kälter neuen Freundinnen ent-<lb/>
gegen &#x2014; und wärmer alten. &#x2014; Seine [Bouterweks?] poeti&#x017F;che<lb n="5"/>
Flü&#x017F;&#x017F;igkeit hat philo&#x017F;ophi&#x017F;che Ründung gewonnen.</p>
      </div><lb/>
      <div type="letter" n="1">
        <head>223. An <hi rendition="#g">Matzdorff.</hi></head><lb/>
        <note type="editorial">[Kopie]</note>
        <dateline> <hi rendition="#right">[Meiningen, 5. Jan. 1802]</hi> </dateline><lb/>
        <p>Ich lebe in hohen dichten Blumen fort.</p>
      </div><lb/>
      <div type="letter" n="1">
        <head>224. An <hi rendition="#g">Augu&#x017F;t Ferdinand Bernhardi in Berlin.</hi><lb n="10"/>
</head>
        <dateline> <hi rendition="#right"><hi rendition="#aq">Meiningen</hi> d. 5. Jenn. 1802.</hi> </dateline><lb/>
        <p>An Sie dacht&#x2019; ich immer, lieber Bernhardi. Manche Bücher waren<lb/>
mir Briefe von Ihnen, und manche Kapitel aus meinen meine an Sie.<lb/>
Ich wolte freilich, ich könte hier im Paradies der Liebe und der Natur,<lb/>
das ich jezt baue, ackere und genie&#x017F;&#x017F;e, mit Ihnen di&#x017F;putierend auf und<lb n="15"/>
abgehen. Un&#x017F;ere Gei&#x017F;ter-Abende werden mir bleiben.</p><lb/>
        <p>Ich arbeite hier in meinem dicken Bergwerk fort, ohne viel von<lb/>
andern Knappen zu hören. Den 3. Theil des <hi rendition="#aq">Titans</hi> volendete ich<lb/>
eben; ich gewinne eine immer reinere Luft; Sie &#x017F;ollen mit ihm zu-<lb/>
frieden oder zufriedner &#x017F;ein. Was &#x017F;chreibt <hi rendition="#aq">Tiek</hi> &#x2014; Sie &#x2014; <hi rendition="#aq">Fr. Schlegel</hi><lb n="20"/>
<note place="left"><ref target="1922_Bd4_140">[140]</ref></note>&#x2014; <hi rendition="#aq">Fichte?</hi> Ich weis gar nichts. &#x2014; Schüler von Ihnen allen &#x017F;chicken<lb/>
mir oft M&#x017F;pte und ich helfe allen in die Welt, z. B. <hi rendition="#aq">Kanne</hi> (oder<lb/>
anonym <hi rendition="#aq">Bergius</hi>). Aber was die mei&#x017F;ten &#x2014; z. B. <hi rendition="#aq">Horn</hi> &#x2014; unrein<lb/>
macht,<note place="foot" n="*)">Und doch &#x017F;olten Sie Brentano&#x2019;s kräftigen <hi rendition="#aq">Godwi,</hi> den 2. Theil le&#x017F;en.</note> i&#x017F;t daß &#x017F;ie, an&#x017F;tat eine neue eigne Aera anzufangen aus ihrem<lb/>
Inner&#x017F;ten und <hi rendition="#g">etwas</hi> darzu&#x017F;tellen, blos die fal&#x017F;chen Dar&#x017F;tellungen dar-<lb n="25"/>
&#x017F;tellen und ihre ä&#x017F;theti&#x017F;chen <hi rendition="#aq">Collegia</hi> ver&#x017F;ifizieren und &#x017F;o alle zu&#x017F;ammen-<lb/>
kriechen in ein Betler-Lexikon von Klagen und Poe&#x017F;ien über Gemein-<lb/>
heit, fal&#x017F;che Sentimental[ität], Schwäche &#xA75B;c. Sie &#x017F;treiten, &#x017F;tat zu<lb/>
zeugen; predigen Bu&#x017F;&#x017F;e, an&#x017F;tat gute Werke zu thun. Daher die al-<lb/>
gemeine Aehnlichkeit ihres Stofs, die &#x017F;chon allein verdamt; jeder neue<lb n="30"/>
Dichter bringt fri&#x017F;chen mit; die Form nicht, aber der Stof komt ewig<lb/>
neu individuali&#x017F;iert mit jedem genial[i&#x017F;chen] Individuum wieder.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[124/0130] Ich brauche nicht 10 Gaſſen, um meine Stube zu ertragen, ich bleibe in dieſer und habe die Welt. Meine alten Argonautenzüge nach dem goldnen Vlies der Weiber haben ſich in Kreuzzüge nach dem h. Grab der Männer verwandelt. Ich gehe kälter neuen Freundinnen ent- gegen — und wärmer alten. — Seine [Bouterweks?] poetiſche 5 Flüſſigkeit hat philoſophiſche Ründung gewonnen. 223. An Matzdorff. [Meiningen, 5. Jan. 1802] Ich lebe in hohen dichten Blumen fort. 224. An Auguſt Ferdinand Bernhardi in Berlin. 10 Meiningen d. 5. Jenn. 1802. An Sie dacht’ ich immer, lieber Bernhardi. Manche Bücher waren mir Briefe von Ihnen, und manche Kapitel aus meinen meine an Sie. Ich wolte freilich, ich könte hier im Paradies der Liebe und der Natur, das ich jezt baue, ackere und genieſſe, mit Ihnen diſputierend auf und 15 abgehen. Unſere Geiſter-Abende werden mir bleiben. Ich arbeite hier in meinem dicken Bergwerk fort, ohne viel von andern Knappen zu hören. Den 3. Theil des Titans volendete ich eben; ich gewinne eine immer reinere Luft; Sie ſollen mit ihm zu- frieden oder zufriedner ſein. Was ſchreibt Tiek — Sie — Fr. Schlegel 20 — Fichte? Ich weis gar nichts. — Schüler von Ihnen allen ſchicken mir oft Mſpte und ich helfe allen in die Welt, z. B. Kanne (oder anonym Bergius). Aber was die meiſten — z. B. Horn — unrein macht, *) iſt daß ſie, anſtat eine neue eigne Aera anzufangen aus ihrem Innerſten und etwas darzuſtellen, blos die falſchen Darſtellungen dar- 25 ſtellen und ihre äſthetiſchen Collegia verſifizieren und ſo alle zuſammen- kriechen in ein Betler-Lexikon von Klagen und Poeſien über Gemein- heit, falſche Sentimental[ität], Schwäche ꝛc. Sie ſtreiten, ſtat zu zeugen; predigen Buſſe, anſtat gute Werke zu thun. Daher die al- gemeine Aehnlichkeit ihres Stofs, die ſchon allein verdamt; jeder neue 30 Dichter bringt friſchen mit; die Form nicht, aber der Stof komt ewig neu individualiſiert mit jedem genial[iſchen] Individuum wieder. [140] *) Und doch ſolten Sie Brentano’s kräftigen Godwi, den 2. Theil leſen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:08:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:08:29Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe04_1960
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe04_1960/130
Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 4. Berlin, 1960, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe04_1960/130>, abgerufen am 26.04.2024.