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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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§. 25.

Käme es darauf an, die erstere Behauptung annehm-
lich vorzustellen: so würden sich viele bekannte Meinun-
gen von der Vernunft und Freyheit, nebst ihren Formen
und Gesetzen, als von unserer höhern, unzeitlichen, durch
intellectuale Anschauung zu erkennenden Natur, im Ge-
gensatze gegen die empirische Auffassung unserer Indi-
vidualität, hiebey benutzen lassen. Ich erwähne dersel-
ben nur, um zu erinnern, dass dergleichen Lieblingsmei-
nungen mancher Personen auf den Gang der Speculation
nicht den geringsten Einfluss haben dürfen.

Demjenigen, was in der innern Wahrnehmung un-
zweydeutig gegeben ist und unwillkührlich gefunden wird,
scheint ohne Zweifel die zweyte Behauptung angemesse-
ner als die erste.

Fragt man im gemeinen Leben jemanden, wer er
sey, so nennt er Stand und Namen, Wohnort und Ge-
burtsort. Diese und andre äusserliche Bestimmungen sei-
ner selbst leiten ihn auch im Handeln. Er erfüllt sei-
nen
individuellen Beruf, seine Familienpflichten; und
je mehr er seiner besondern Stellung in der Welt ge-
mäss sich beträgt, um desto verständiger finden wir ihn.
Wollte er einen andern Begriff von sich selbst bey sei-
nen Entschliessungen zum Grunde legen, wollte er einen
Augenblick von seiner Individualität abstrahiren: wir wür-
den bald sagen, er vergesse sich, er sey ein Thor.

Haben wir denn nun ausser dieser individuellen Ich-
heit noch eine andre? Wenn wir einmal eingestehen
müssen, dass unser zeitlich bestimmtes Individuum Wir
selbst ist, und wenn wir rückwärts, so oft wir unbefan-
gen
von uns selbst reden, Niemanden sonst, als eben
dieses Individuum im Auge haben: wozu soll es denn füh-
ren, dass man in der Philosophie von diesem nämlichen
Individuum zu abstrahiren versucht? Und ist es nicht
schon im gemeinen Leben ein Irrthum, wenn man die
Umstände des Lebens, die freylich hätten anders kom-

§. 25.

Käme es darauf an, die erstere Behauptung annehm-
lich vorzustellen: so würden sich viele bekannte Meinun-
gen von der Vernunft und Freyheit, nebst ihren Formen
und Gesetzen, als von unserer höhern, unzeitlichen, durch
intellectuale Anschauung zu erkennenden Natur, im Ge-
gensatze gegen die empirische Auffassung unserer Indi-
vidualität, hiebey benutzen lassen. Ich erwähne dersel-
ben nur, um zu erinnern, daſs dergleichen Lieblingsmei-
nungen mancher Personen auf den Gang der Speculation
nicht den geringsten Einfluſs haben dürfen.

Demjenigen, was in der innern Wahrnehmung un-
zweydeutig gegeben ist und unwillkührlich gefunden wird,
scheint ohne Zweifel die zweyte Behauptung angemesse-
ner als die erste.

Fragt man im gemeinen Leben jemanden, wer er
sey, so nennt er Stand und Namen, Wohnort und Ge-
burtsort. Diese und andre äuſserliche Bestimmungen sei-
ner selbst leiten ihn auch im Handeln. Er erfüllt sei-
nen
individuellen Beruf, seine Familienpflichten; und
je mehr er seiner besondern Stellung in der Welt ge-
mäſs sich beträgt, um desto verständiger finden wir ihn.
Wollte er einen andern Begriff von sich selbst bey sei-
nen Entschlieſsungen zum Grunde legen, wollte er einen
Augenblick von seiner Individualität abstrahiren: wir wür-
den bald sagen, er vergesse sich, er sey ein Thor.

Haben wir denn nun auſser dieser individuellen Ich-
heit noch eine andre? Wenn wir einmal eingestehen
müssen, daſs unser zeitlich bestimmtes Individuum Wir
selbst ist, und wenn wir rückwärts, so oft wir unbefan-
gen
von uns selbst reden, Niemanden sonst, als eben
dieses Individuum im Auge haben: wozu soll es denn füh-
ren, daſs man in der Philosophie von diesem nämlichen
Individuum zu abstrahiren versucht? Und ist es nicht
schon im gemeinen Leben ein Irrthum, wenn man die
Umstände des Lebens, die freylich hätten anders kom-

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[88/0108] §. 25. Käme es darauf an, die erstere Behauptung annehm- lich vorzustellen: so würden sich viele bekannte Meinun- gen von der Vernunft und Freyheit, nebst ihren Formen und Gesetzen, als von unserer höhern, unzeitlichen, durch intellectuale Anschauung zu erkennenden Natur, im Ge- gensatze gegen die empirische Auffassung unserer Indi- vidualität, hiebey benutzen lassen. Ich erwähne dersel- ben nur, um zu erinnern, daſs dergleichen Lieblingsmei- nungen mancher Personen auf den Gang der Speculation nicht den geringsten Einfluſs haben dürfen. Demjenigen, was in der innern Wahrnehmung un- zweydeutig gegeben ist und unwillkührlich gefunden wird, scheint ohne Zweifel die zweyte Behauptung angemesse- ner als die erste. Fragt man im gemeinen Leben jemanden, wer er sey, so nennt er Stand und Namen, Wohnort und Ge- burtsort. Diese und andre äuſserliche Bestimmungen sei- ner selbst leiten ihn auch im Handeln. Er erfüllt sei- nen individuellen Beruf, seine Familienpflichten; und je mehr er seiner besondern Stellung in der Welt ge- mäſs sich beträgt, um desto verständiger finden wir ihn. Wollte er einen andern Begriff von sich selbst bey sei- nen Entschlieſsungen zum Grunde legen, wollte er einen Augenblick von seiner Individualität abstrahiren: wir wür- den bald sagen, er vergesse sich, er sey ein Thor. Haben wir denn nun auſser dieser individuellen Ich- heit noch eine andre? Wenn wir einmal eingestehen müssen, daſs unser zeitlich bestimmtes Individuum Wir selbst ist, und wenn wir rückwärts, so oft wir unbefan- gen von uns selbst reden, Niemanden sonst, als eben dieses Individuum im Auge haben: wozu soll es denn füh- ren, daſs man in der Philosophie von diesem nämlichen Individuum zu abstrahiren versucht? Und ist es nicht schon im gemeinen Leben ein Irrthum, wenn man die Umstände des Lebens, die freylich hätten anders kom-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/108>, abgerufen am 21.11.2024.