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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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men können, als etwas unserer Persönlichkeit zufälliges
betrachtet; da wir doch gerade nur unter diesen Um-
ständen, und in Beziehung auf dieselben, unsre eigene
Person kennen lernen? --

Gewiss würde diese Vorstellungsart den Sieg davon
tragen: wenn es möglich wäre, sie in sich selbst zu
vollenden
. Aber

Erstlich: in keiner augenblicklichen Wahrnehmung
finde ich Mich, auch nur als Individuum; vielmehr muss
die Erinnerung zu Hülfe kommen. Ich setze mich als
bekannt aus voriger Zeit in jedem neuen Moment vor-
aus. Nun ist dieses als bekannt Vorausgesetzte eben so
unbestimmt, wie eine Summe von halberloschenen Er-
innerungen aus verschiedenen, zum Theil entfernten Zei-
ten, nur immer seyn kann. Daraus würde folgen, dass
ich nicht genau wüsste, Wen ich eigentlich meinte, falls
ich von mir als Individuum redete.

Zweytens: die individuellen Bestimmungen meiner
selbst sind ein Aggregat, welches allmählig angewachsen,
und noch jetzt im Fortwachsen begriffen ist. Richtet
sich die Ichheit nach diesem Aggregat: so wird sie un-
aufhörlich verändert, und niemals vollendet. Aber im
Selbstbewusstseyn sehen wir uns an als ein Bekanntes,
Bestehendes, und schon Vorhandenes.

Drittens: ein Aggregat besitzt keine reale Einheit;
es ist Vieles; von Mir aber rede ich als von Einem, und
einem Realen.

Viertens: die ganze Summe meiner Vorstellungen,
Begehrungen, und individuellen Zustände, würde keine
Persönlichkeit bilden, wofern nicht das Subject vorhan-
den wäre, welchem jene individuellen Bestimmungen zum
innerlichen Schauspiele dienen.

Fünftens: für dieses Subject, für das Wissen um
uns selbst, ist es zufällig, was als Gewusstes sich darbie-
ten möge; darum abstrahirt man von den besondern Be-
stimmungen des Gewussten, und fasst bloss das Verhält-

men können, als etwas unserer Persönlichkeit zufälliges
betrachtet; da wir doch gerade nur unter diesen Um-
ständen, und in Beziehung auf dieselben, unsre eigene
Person kennen lernen? —

Gewiſs würde diese Vorstellungsart den Sieg davon
tragen: wenn es möglich wäre, sie in sich selbst zu
vollenden
. Aber

Erstlich: in keiner augenblicklichen Wahrnehmung
finde ich Mich, auch nur als Individuum; vielmehr muſs
die Erinnerung zu Hülfe kommen. Ich setze mich als
bekannt aus voriger Zeit in jedem neuen Moment vor-
aus. Nun ist dieses als bekannt Vorausgesetzte eben so
unbestimmt, wie eine Summe von halberloschenen Er-
innerungen aus verschiedenen, zum Theil entfernten Zei-
ten, nur immer seyn kann. Daraus würde folgen, daſs
ich nicht genau wüſste, Wen ich eigentlich meinte, falls
ich von mir als Individuum redete.

Zweytens: die individuellen Bestimmungen meiner
selbst sind ein Aggregat, welches allmählig angewachsen,
und noch jetzt im Fortwachsen begriffen ist. Richtet
sich die Ichheit nach diesem Aggregat: so wird sie un-
aufhörlich verändert, und niemals vollendet. Aber im
Selbstbewuſstseyn sehen wir uns an als ein Bekanntes,
Bestehendes, und schon Vorhandenes.

Drittens: ein Aggregat besitzt keine reale Einheit;
es ist Vieles; von Mir aber rede ich als von Einem, und
einem Realen.

Viertens: die ganze Summe meiner Vorstellungen,
Begehrungen, und individuellen Zustände, würde keine
Persönlichkeit bilden, wofern nicht das Subject vorhan-
den wäre, welchem jene individuellen Bestimmungen zum
innerlichen Schauspiele dienen.

Fünftens: für dieses Subject, für das Wissen um
uns selbst, ist es zufällig, was als Gewuſstes sich darbie-
ten möge; darum abstrahirt man von den besondern Be-
stimmungen des Gewuſsten, und faſst bloſs das Verhält-

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[89/0109] men können, als etwas unserer Persönlichkeit zufälliges betrachtet; da wir doch gerade nur unter diesen Um- ständen, und in Beziehung auf dieselben, unsre eigene Person kennen lernen? — Gewiſs würde diese Vorstellungsart den Sieg davon tragen: wenn es möglich wäre, sie in sich selbst zu vollenden. Aber Erstlich: in keiner augenblicklichen Wahrnehmung finde ich Mich, auch nur als Individuum; vielmehr muſs die Erinnerung zu Hülfe kommen. Ich setze mich als bekannt aus voriger Zeit in jedem neuen Moment vor- aus. Nun ist dieses als bekannt Vorausgesetzte eben so unbestimmt, wie eine Summe von halberloschenen Er- innerungen aus verschiedenen, zum Theil entfernten Zei- ten, nur immer seyn kann. Daraus würde folgen, daſs ich nicht genau wüſste, Wen ich eigentlich meinte, falls ich von mir als Individuum redete. Zweytens: die individuellen Bestimmungen meiner selbst sind ein Aggregat, welches allmählig angewachsen, und noch jetzt im Fortwachsen begriffen ist. Richtet sich die Ichheit nach diesem Aggregat: so wird sie un- aufhörlich verändert, und niemals vollendet. Aber im Selbstbewuſstseyn sehen wir uns an als ein Bekanntes, Bestehendes, und schon Vorhandenes. Drittens: ein Aggregat besitzt keine reale Einheit; es ist Vieles; von Mir aber rede ich als von Einem, und einem Realen. Viertens: die ganze Summe meiner Vorstellungen, Begehrungen, und individuellen Zustände, würde keine Persönlichkeit bilden, wofern nicht das Subject vorhan- den wäre, welchem jene individuellen Bestimmungen zum innerlichen Schauspiele dienen. Fünftens: für dieses Subject, für das Wissen um uns selbst, ist es zufällig, was als Gewuſstes sich darbie- ten möge; darum abstrahirt man von den besondern Be- stimmungen des Gewuſsten, und faſst bloſs das Verhält-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/109>, abgerufen am 28.04.2024.