Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Fühlen XII. Buch.
§. 3.
Ob uns das Fühlen betrüge.

Viele berümte Männer haben sich zu unsern Zeiten
zu zeigen bemüht, daß die Jrrtümer der übrigen Sinne,
und besonders des Gesichtes, durch das Fühlen sich ver-
bessern lassen (o), und daß dieses Fühlen lebhafte Ein-
drükke von Jdeen verursache, welche dauerhaft sind: so
wie ein blinder Bildhauer vom blossen Fühlen lerne, ganz
änliche Bildsäulen Personen änlich nachzuschnizzen (p).

Dieses ist zum Theil wahr, zum Theil falsch. Jn
der That hat das Fühlen das Vorrecht, daß wir von dem
Körper selbst unmittelbar gerühret werden, von dessen
Beschaffenheiten wir unser Urtheil sagen, da z. E. beim
Sehen, das Auge nicht von dem gesehenen Körper, son-
dern von einem andern, nämlich dem gefärbten Lichtstrale
getroffen wird.

Allein, darum trügen die übrigen Sinne, und selbst
das Gesicht viel weniger, als man gemeiniglich zu schrei-
ben pflegt.

Ein Pferd misset, ohne alle Gefühlhülfsmittel, wozu
ohnedem ein vierfüßiges Thier ganz und gar ungeschikkt
ist, die Weite mit seinem Auge auf das beste, und springet
genau über den anbefolenen Graben. Neugeborne Thiere,
z. E. Lämmer, suchen sogleich ihre Mütter, und finden
sie: die eben aus dem Ei kriechende Fliege, die vor kur-
zem erst Augen bekam, fliegt, ohne alle erlernte Erfarung,
gerades Weges, vom Geruche geleitet, zu dem stinkenden
Körper hin. Doch hiervon soll anderswo geredet werden.

Ferner so trügt das Fühlen eben so wohl. Jch will
nicht den Versuch des Sturms anführen (q), da die

übers
(o) [Spaltenumbruch] BUFFON hist. natur. T.
III. pag.
363.
(p) le CAT loc. cit.
(q) [Spaltenumbruch] STURM sensus unius ge-
minus p.
8.
Das Fuͤhlen XII. Buch.
§. 3.
Ob uns das Fuͤhlen betruͤge.

Viele beruͤmte Maͤnner haben ſich zu unſern Zeiten
zu zeigen bemuͤht, daß die Jrrtuͤmer der uͤbrigen Sinne,
und beſonders des Geſichtes, durch das Fuͤhlen ſich ver-
beſſern laſſen (o), und daß dieſes Fuͤhlen lebhafte Ein-
druͤkke von Jdeen verurſache, welche dauerhaft ſind: ſo
wie ein blinder Bildhauer vom bloſſen Fuͤhlen lerne, ganz
aͤnliche Bildſaͤulen Perſonen aͤnlich nachzuſchnizzen (p).

Dieſes iſt zum Theil wahr, zum Theil falſch. Jn
der That hat das Fuͤhlen das Vorrecht, daß wir von dem
Koͤrper ſelbſt unmittelbar geruͤhret werden, von deſſen
Beſchaffenheiten wir unſer Urtheil ſagen, da z. E. beim
Sehen, das Auge nicht von dem geſehenen Koͤrper, ſon-
dern von einem andern, naͤmlich dem gefaͤrbten Lichtſtrale
getroffen wird.

Allein, darum truͤgen die uͤbrigen Sinne, und ſelbſt
das Geſicht viel weniger, als man gemeiniglich zu ſchrei-
ben pflegt.

Ein Pferd miſſet, ohne alle Gefuͤhlhuͤlfsmittel, wozu
ohnedem ein vierfuͤßiges Thier ganz und gar ungeſchikkt
iſt, die Weite mit ſeinem Auge auf das beſte, und ſpringet
genau uͤber den anbefolenen Graben. Neugeborne Thiere,
z. E. Laͤmmer, ſuchen ſogleich ihre Muͤtter, und finden
ſie: die eben aus dem Ei kriechende Fliege, die vor kur-
zem erſt Augen bekam, fliegt, ohne alle erlernte Erfarung,
gerades Weges, vom Geruche geleitet, zu dem ſtinkenden
Koͤrper hin. Doch hiervon ſoll anderswo geredet werden.

Ferner ſo truͤgt das Fuͤhlen eben ſo wohl. Jch will
nicht den Verſuch des Sturms anfuͤhren (q), da die

uͤbers
(o) [Spaltenumbruch] BUFFON hiſt. natur. T.
III. pag.
363.
(p) le CAT loc. cit.
(q) [Spaltenumbruch] STURM ſenſus unius ge-
minus p.
8.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0396" n="378"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Das Fu&#x0364;hlen <hi rendition="#aq">XII.</hi> Buch.</hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 3.<lb/><hi rendition="#b">Ob uns das Fu&#x0364;hlen betru&#x0364;ge.</hi></head><lb/>
            <p>Viele beru&#x0364;mte Ma&#x0364;nner haben &#x017F;ich zu un&#x017F;ern Zeiten<lb/>
zu zeigen bemu&#x0364;ht, daß die Jrrtu&#x0364;mer der u&#x0364;brigen Sinne,<lb/>
und be&#x017F;onders des Ge&#x017F;ichtes, durch das Fu&#x0364;hlen &#x017F;ich ver-<lb/>
be&#x017F;&#x017F;ern la&#x017F;&#x017F;en <note place="foot" n="(o)"><cb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">BUFFON</hi> hi&#x017F;t. natur. T.<lb/>
III. pag.</hi> 363.</note>, und daß die&#x017F;es Fu&#x0364;hlen lebhafte Ein-<lb/>
dru&#x0364;kke von Jdeen verur&#x017F;ache, welche dauerhaft &#x017F;ind: &#x017F;o<lb/>
wie ein blinder Bildhauer vom blo&#x017F;&#x017F;en Fu&#x0364;hlen lerne, ganz<lb/>
a&#x0364;nliche Bild&#x017F;a&#x0364;ulen Per&#x017F;onen a&#x0364;nlich nachzu&#x017F;chnizzen <note place="foot" n="(p)"><hi rendition="#aq">le <hi rendition="#g">CAT</hi> loc. cit.</hi></note>.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;es i&#x017F;t zum Theil wahr, zum Theil fal&#x017F;ch. Jn<lb/>
der That hat das Fu&#x0364;hlen das Vorrecht, daß wir von dem<lb/>
Ko&#x0364;rper &#x017F;elb&#x017F;t unmittelbar geru&#x0364;hret werden, von de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Be&#x017F;chaffenheiten wir un&#x017F;er Urtheil &#x017F;agen, da z. E. beim<lb/>
Sehen, das Auge nicht von dem ge&#x017F;ehenen Ko&#x0364;rper, &#x017F;on-<lb/>
dern von einem andern, na&#x0364;mlich dem gefa&#x0364;rbten Licht&#x017F;trale<lb/>
getroffen wird.</p><lb/>
            <p>Allein, darum tru&#x0364;gen die u&#x0364;brigen Sinne, und &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
das Ge&#x017F;icht viel weniger, als man gemeiniglich zu &#x017F;chrei-<lb/>
ben pflegt.</p><lb/>
            <p>Ein Pferd mi&#x017F;&#x017F;et, ohne alle Gefu&#x0364;hlhu&#x0364;lfsmittel, wozu<lb/>
ohnedem ein vierfu&#x0364;ßiges Thier ganz und gar unge&#x017F;chikkt<lb/>
i&#x017F;t, die Weite mit &#x017F;einem Auge auf das be&#x017F;te, und &#x017F;pringet<lb/>
genau u&#x0364;ber den anbefolenen Graben. Neugeborne Thiere,<lb/>
z. E. La&#x0364;mmer, &#x017F;uchen &#x017F;ogleich ihre Mu&#x0364;tter, und finden<lb/>
&#x017F;ie: die eben aus dem Ei kriechende Fliege, die vor kur-<lb/>
zem er&#x017F;t Augen bekam, fliegt, ohne alle erlernte Erfarung,<lb/>
gerades Weges, vom Geruche geleitet, zu dem &#x017F;tinkenden<lb/>
Ko&#x0364;rper hin. Doch hiervon &#x017F;oll anderswo geredet werden.</p><lb/>
            <p>Ferner &#x017F;o tru&#x0364;gt das Fu&#x0364;hlen eben &#x017F;o wohl. Jch will<lb/>
nicht den Ver&#x017F;uch des <hi rendition="#fr">Sturms</hi> anfu&#x0364;hren <note place="foot" n="(q)"><cb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">STURM</hi> &#x017F;en&#x017F;us unius ge-<lb/>
minus p.</hi> 8.</note>, da die<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">u&#x0364;bers</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[378/0396] Das Fuͤhlen XII. Buch. §. 3. Ob uns das Fuͤhlen betruͤge. Viele beruͤmte Maͤnner haben ſich zu unſern Zeiten zu zeigen bemuͤht, daß die Jrrtuͤmer der uͤbrigen Sinne, und beſonders des Geſichtes, durch das Fuͤhlen ſich ver- beſſern laſſen (o), und daß dieſes Fuͤhlen lebhafte Ein- druͤkke von Jdeen verurſache, welche dauerhaft ſind: ſo wie ein blinder Bildhauer vom bloſſen Fuͤhlen lerne, ganz aͤnliche Bildſaͤulen Perſonen aͤnlich nachzuſchnizzen (p). Dieſes iſt zum Theil wahr, zum Theil falſch. Jn der That hat das Fuͤhlen das Vorrecht, daß wir von dem Koͤrper ſelbſt unmittelbar geruͤhret werden, von deſſen Beſchaffenheiten wir unſer Urtheil ſagen, da z. E. beim Sehen, das Auge nicht von dem geſehenen Koͤrper, ſon- dern von einem andern, naͤmlich dem gefaͤrbten Lichtſtrale getroffen wird. Allein, darum truͤgen die uͤbrigen Sinne, und ſelbſt das Geſicht viel weniger, als man gemeiniglich zu ſchrei- ben pflegt. Ein Pferd miſſet, ohne alle Gefuͤhlhuͤlfsmittel, wozu ohnedem ein vierfuͤßiges Thier ganz und gar ungeſchikkt iſt, die Weite mit ſeinem Auge auf das beſte, und ſpringet genau uͤber den anbefolenen Graben. Neugeborne Thiere, z. E. Laͤmmer, ſuchen ſogleich ihre Muͤtter, und finden ſie: die eben aus dem Ei kriechende Fliege, die vor kur- zem erſt Augen bekam, fliegt, ohne alle erlernte Erfarung, gerades Weges, vom Geruche geleitet, zu dem ſtinkenden Koͤrper hin. Doch hiervon ſoll anderswo geredet werden. Ferner ſo truͤgt das Fuͤhlen eben ſo wohl. Jch will nicht den Verſuch des Sturms anfuͤhren (q), da die uͤbers (o) BUFFON hiſt. natur. T. III. pag. 363. (p) le CAT loc. cit. (q) STURM ſenſus unius ge- minus p. 8.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/396
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/396>, abgerufen am 20.11.2024.