Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Abschnitt. Der Verstand.
habe eine Jungfer vor mir, welche diesem Uebel fast bei
jeder Reinigung periodisch unterworfen ist.

Bisweilen scheinen sich die Spuren schon durch ihre
Menge einander zu verdrengen, und dieses gilt sowol von
Menschen, die gar zu viel lesen, als von Thieren (o) die
gar zu vielerlei lernen. Und dennoch besizzen kleine Men-
schen von kleinem Gehirn, und Kinder oft ein vortrefli-
ches Gedächtnis. Man hat auch wizzige (p) schalkhafte
Zwerge, wovon Esop ein Exempel giebt. Folglich schei-
net hier die Menge nicht so viel Schaden zu thun, als
von einer langsamen Bewegung des circulirenden Blutes,
und der so oder anders von den Speisen mittelst der Er-
nährung, nach der Partikel des empfindenden Markes
ersezzten Materie, geschicht, dadurch die Spuren gleich-
sam allmälich wieder erneuret werden; so wie sie geschwin-
de zerstört werden, wenn der Drukk, von einer heissen
Luft, von bösartigen Krankheiten, und von dem, im
Schlagflusse ausgetretenem Blute zunimmt (p*). Es ver-
schwinden aber die ersten Spuren, welche ohne Aufmerk-
samkeit, ohne Affekt, gemein, schwach und mit andern
Jdeen nicht verknüpft sind; und endlich würden in allen
Menschen, alle Spuren völlig verschwinden, wenn das
hohe Alter weit genug hinausgesezzt wäre (p**).

§. 10.
Die Seele.

Dieses war der Vorrath von Spuren, wodurch die
Seele ihre Fähigkeiten in Ausübung bringt. Wir be-
nennen damit ein Wesen, welches mit unserm Körper in
Verbindung steht, welches denket, urtheilt, will, sich
seiner bewust ist, seine Jdeen erkennt, und die sie ehedem

gewust,
(o) [Spaltenumbruch] Wenn ein Kanarienvogel zu
viele Gefänge lernt, wird er von
zwei oder drei Liedern, die ihm
auf einmal vorgesungen werden,
veritret. HERVIEUX p. 361.
(p) [Spaltenumbruch] Iourn. de Medec. T. XII.
p. 167. seqq.
(p*) pag. 539.
(p**) pag. 538. 539.
Y y y 2

I. Abſchnitt. Der Verſtand.
habe eine Jungfer vor mir, welche dieſem Uebel faſt bei
jeder Reinigung periodiſch unterworfen iſt.

Bisweilen ſcheinen ſich die Spuren ſchon durch ihre
Menge einander zu verdrengen, und dieſes gilt ſowol von
Menſchen, die gar zu viel leſen, als von Thieren (o) die
gar zu vielerlei lernen. Und dennoch beſizzen kleine Men-
ſchen von kleinem Gehirn, und Kinder oft ein vortrefli-
ches Gedaͤchtnis. Man hat auch wizzige (p) ſchalkhafte
Zwerge, wovon Eſop ein Exempel giebt. Folglich ſchei-
net hier die Menge nicht ſo viel Schaden zu thun, als
von einer langſamen Bewegung des circulirenden Blutes,
und der ſo oder anders von den Speiſen mittelſt der Er-
naͤhrung, nach der Partikel des empfindenden Markes
erſezzten Materie, geſchicht, dadurch die Spuren gleich-
ſam allmaͤlich wieder erneuret werden; ſo wie ſie geſchwin-
de zerſtoͤrt werden, wenn der Drukk, von einer heiſſen
Luft, von boͤsartigen Krankheiten, und von dem, im
Schlagfluſſe ausgetretenem Blute zunimmt (p*). Es ver-
ſchwinden aber die erſten Spuren, welche ohne Aufmerk-
ſamkeit, ohne Affekt, gemein, ſchwach und mit andern
Jdeen nicht verknuͤpft ſind; und endlich wuͤrden in allen
Menſchen, alle Spuren voͤllig verſchwinden, wenn das
hohe Alter weit genug hinausgeſezzt waͤre (p**).

§. 10.
Die Seele.

Dieſes war der Vorrath von Spuren, wodurch die
Seele ihre Faͤhigkeiten in Ausuͤbung bringt. Wir be-
nennen damit ein Weſen, welches mit unſerm Koͤrper in
Verbindung ſteht, welches denket, urtheilt, will, ſich
ſeiner bewuſt iſt, ſeine Jdeen erkennt, und die ſie ehedem

gewuſt,
(o) [Spaltenumbruch] Wenn ein Kanarienvogel zu
viele Gefaͤnge lernt, wird er von
zwei oder drei Liedern, die ihm
auf einmal vorgeſungen werden,
veritret. HERVIEUX p. 361.
(p) [Spaltenumbruch] Iourn. de Médec. T. XII.
p. 167. ſeqq.
(p*) pag. 539.
(p**) pag. 538. 539.
Y y y 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f1093" n="1075"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ab&#x017F;chnitt. Der Ver&#x017F;tand.</hi></fw><lb/>
habe eine Jungfer vor mir, welche die&#x017F;em Uebel fa&#x017F;t bei<lb/>
jeder Reinigung periodi&#x017F;ch unterworfen i&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>Bisweilen &#x017F;cheinen &#x017F;ich die Spuren &#x017F;chon durch ihre<lb/>
Menge einander zu verdrengen, und die&#x017F;es gilt &#x017F;owol von<lb/>
Men&#x017F;chen, die gar zu viel le&#x017F;en, als von Thieren <note place="foot" n="(o)"><cb/>
Wenn ein Kanarienvogel zu<lb/>
viele Gefa&#x0364;nge lernt, wird er von<lb/>
zwei oder drei Liedern, die ihm<lb/>
auf einmal vorge&#x017F;ungen werden,<lb/>
veritret. <hi rendition="#aq">HERVIEUX p.</hi> 361.</note> die<lb/>
gar zu vielerlei lernen. Und dennoch be&#x017F;izzen kleine Men-<lb/>
&#x017F;chen von kleinem Gehirn, und Kinder oft ein vortrefli-<lb/>
ches Geda&#x0364;chtnis. Man hat auch wizzige <note place="foot" n="(p)"><cb/><hi rendition="#aq">Iourn. de Médec. T. XII.<lb/>
p. 167. &#x017F;eqq.</hi></note> &#x017F;chalkhafte<lb/>
Zwerge, wovon <hi rendition="#fr">E&#x017F;op</hi> ein Exempel giebt. Folglich &#x017F;chei-<lb/>
net hier die Menge nicht &#x017F;o viel Schaden zu thun, als<lb/>
von einer lang&#x017F;amen Bewegung des circulirenden Blutes,<lb/>
und der &#x017F;o oder anders von den Spei&#x017F;en mittel&#x017F;t der Er-<lb/>
na&#x0364;hrung, nach der Partikel des empfindenden Markes<lb/>
er&#x017F;ezzten Materie, ge&#x017F;chicht, dadurch die Spuren gleich-<lb/>
&#x017F;am allma&#x0364;lich wieder erneuret werden; &#x017F;o wie &#x017F;ie ge&#x017F;chwin-<lb/>
de zer&#x017F;to&#x0364;rt werden, wenn der Drukk, von einer hei&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Luft, von bo&#x0364;sartigen Krankheiten, und von dem, im<lb/>
Schlagflu&#x017F;&#x017F;e ausgetretenem Blute zunimmt <note place="foot" n="(p*)"><hi rendition="#aq">pag.</hi> 539.</note>. Es ver-<lb/>
&#x017F;chwinden aber die er&#x017F;ten Spuren, welche ohne Aufmerk-<lb/>
&#x017F;amkeit, ohne Affekt, gemein, &#x017F;chwach und mit andern<lb/>
Jdeen nicht verknu&#x0364;pft &#x017F;ind; und endlich wu&#x0364;rden in allen<lb/>
Men&#x017F;chen, alle Spuren vo&#x0364;llig ver&#x017F;chwinden, wenn das<lb/>
hohe Alter weit genug hinausge&#x017F;ezzt wa&#x0364;re <note place="foot" n="(p**)"><hi rendition="#aq">pag.</hi> 538. 539.</note>.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 10.<lb/><hi rendition="#g">Die Seele.</hi></head><lb/>
            <p>Die&#x017F;es war der Vorrath von Spuren, wodurch die<lb/><hi rendition="#fr">Seele</hi> ihre Fa&#x0364;higkeiten in Ausu&#x0364;bung bringt. Wir be-<lb/>
nennen damit ein We&#x017F;en, welches mit un&#x017F;erm Ko&#x0364;rper in<lb/>
Verbindung &#x017F;teht, welches denket, urtheilt, will, &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;einer bewu&#x017F;t i&#x017F;t, &#x017F;eine Jdeen erkennt, und die &#x017F;ie ehedem<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Y y y 2</fw><fw place="bottom" type="catch">gewu&#x017F;t,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1075/1093] I. Abſchnitt. Der Verſtand. habe eine Jungfer vor mir, welche dieſem Uebel faſt bei jeder Reinigung periodiſch unterworfen iſt. Bisweilen ſcheinen ſich die Spuren ſchon durch ihre Menge einander zu verdrengen, und dieſes gilt ſowol von Menſchen, die gar zu viel leſen, als von Thieren (o) die gar zu vielerlei lernen. Und dennoch beſizzen kleine Men- ſchen von kleinem Gehirn, und Kinder oft ein vortrefli- ches Gedaͤchtnis. Man hat auch wizzige (p) ſchalkhafte Zwerge, wovon Eſop ein Exempel giebt. Folglich ſchei- net hier die Menge nicht ſo viel Schaden zu thun, als von einer langſamen Bewegung des circulirenden Blutes, und der ſo oder anders von den Speiſen mittelſt der Er- naͤhrung, nach der Partikel des empfindenden Markes erſezzten Materie, geſchicht, dadurch die Spuren gleich- ſam allmaͤlich wieder erneuret werden; ſo wie ſie geſchwin- de zerſtoͤrt werden, wenn der Drukk, von einer heiſſen Luft, von boͤsartigen Krankheiten, und von dem, im Schlagfluſſe ausgetretenem Blute zunimmt (p*). Es ver- ſchwinden aber die erſten Spuren, welche ohne Aufmerk- ſamkeit, ohne Affekt, gemein, ſchwach und mit andern Jdeen nicht verknuͤpft ſind; und endlich wuͤrden in allen Menſchen, alle Spuren voͤllig verſchwinden, wenn das hohe Alter weit genug hinausgeſezzt waͤre (p**). §. 10. Die Seele. Dieſes war der Vorrath von Spuren, wodurch die Seele ihre Faͤhigkeiten in Ausuͤbung bringt. Wir be- nennen damit ein Weſen, welches mit unſerm Koͤrper in Verbindung ſteht, welches denket, urtheilt, will, ſich ſeiner bewuſt iſt, ſeine Jdeen erkennt, und die ſie ehedem gewuſt, (o) Wenn ein Kanarienvogel zu viele Gefaͤnge lernt, wird er von zwei oder drei Liedern, die ihm auf einmal vorgeſungen werden, veritret. HERVIEUX p. 361. (p) Iourn. de Médec. T. XII. p. 167. ſeqq. (p*) pag. 539. (p**) pag. 538. 539. Y y y 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1093
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1075. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1093>, abgerufen am 21.12.2024.