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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Gewebe-Seele nervenloser Thiere. IX.
bare Fliegenfalle (Dionaea) bei der Berührung ihrer Blätter
diese rasch zusammenklappt und die Fliege fängt, so erscheint die
Empfindung lebhafter, die Reizleitung schneller und die Bewegung
energischer als die Reflex-Reaktion des gereizten Badeschwammes
und vieler anderer Spongien.

III. B. Die Seele nervenloser Metazoen. Von ganz be-
sonderem Interesse für die vergleichende Psychologie im Allge-
meinen und für die Phylogenie der Thierseele im Besonderen
ist die Seelenthätigkeit jener niederen Metazoen, welche
zwar Gewebe und oft bereits differenzirte Organe besitzen, aber
weder Nerven noch specifische Sinnesorgane. Dahin gehören
vier verschiedene Gruppen von ältesten Cölenterien oder
Niederthieren, nämlich: 1. die Gasträaden, 2. die Plato-
darien,
3. die Spongien und 4. die Hydropolypen,
die niedersten Formen der Nesselthiere.

Die Gasträaden oder Urdarmthiere bilden jene kleine
Gruppe von niedersten Cölenterien, welche als die gemeinsame
Stammgruppe aller Metazoen von höchster Wichtigkeit ist. Der
Körper dieser kleinen, schwimmenden Thierchen erscheint als ein
kleines (meist eiförmiges) Bläschen, welches eine einfache Höhle
mit einer Oeffnung enthält (Urdarm und Urmund). Die Wand
der verdauenden Höhle wird aus zwei einfachen Zellenschichten
oder Epithelien gebildet, von denen die innere (Darmblatt) die
vegetalen Thätigkeiten der Ernährung und die äußere (Haut-
blatt) die animalen Funktionen der Bewegung und Empfindung
vermittelt. Die gleichartigen sensiblen Zellen dieses Hautblattes
tragen zarte Geißeln, lange Flimmerhaare, deren Schwingungen
die willkürliche Schwimmbewegung bewirken. Die wenigen noch
lebenden Formen der Gasträaden, die Gastremarien (Tricho-
placiden)
und Cyemarien (Orthonectiden), sind deßhalb so
interessant, weil sie zeitlebens auf derselben Bildungsstufe stehen
bleiben, welche die Keime aller übrigen Metazoen (von den

Gewebe-Seele nervenloſer Thiere. IX.
bare Fliegenfalle (Dionaea) bei der Berührung ihrer Blätter
dieſe raſch zuſammenklappt und die Fliege fängt, ſo erſcheint die
Empfindung lebhafter, die Reizleitung ſchneller und die Bewegung
energiſcher als die Reflex-Reaktion des gereizten Badeſchwammes
und vieler anderer Spongien.

III. B. Die Seele nervenloſer Metazoen. Von ganz be-
ſonderem Intereſſe für die vergleichende Pſychologie im Allge-
meinen und für die Phylogenie der Thierſeele im Beſonderen
iſt die Seelenthätigkeit jener niederen Metazoen, welche
zwar Gewebe und oft bereits differenzirte Organe beſitzen, aber
weder Nerven noch ſpecifiſche Sinnesorgane. Dahin gehören
vier verſchiedene Gruppen von älteſten Cölenterien oder
Niederthieren, nämlich: 1. die Gaſträaden, 2. die Plato-
darien,
3. die Spongien und 4. die Hydropolypen,
die niederſten Formen der Neſſelthiere.

Die Gaſträaden oder Urdarmthiere bilden jene kleine
Gruppe von niederſten Cölenterien, welche als die gemeinſame
Stammgruppe aller Metazoen von höchſter Wichtigkeit iſt. Der
Körper dieſer kleinen, ſchwimmenden Thierchen erſcheint als ein
kleines (meiſt eiförmiges) Bläschen, welches eine einfache Höhle
mit einer Oeffnung enthält (Urdarm und Urmund). Die Wand
der verdauenden Höhle wird aus zwei einfachen Zellenſchichten
oder Epithelien gebildet, von denen die innere (Darmblatt) die
vegetalen Thätigkeiten der Ernährung und die äußere (Haut-
blatt) die animalen Funktionen der Bewegung und Empfindung
vermittelt. Die gleichartigen ſenſiblen Zellen dieſes Hautblattes
tragen zarte Geißeln, lange Flimmerhaare, deren Schwingungen
die willkürliche Schwimmbewegung bewirken. Die wenigen noch
lebenden Formen der Gaſträaden, die Gaſtremarien (Tricho-
placiden)
und Cyemarien (Orthonectiden), ſind deßhalb ſo
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[184/0200] Gewebe-Seele nervenloſer Thiere. IX. bare Fliegenfalle (Dionaea) bei der Berührung ihrer Blätter dieſe raſch zuſammenklappt und die Fliege fängt, ſo erſcheint die Empfindung lebhafter, die Reizleitung ſchneller und die Bewegung energiſcher als die Reflex-Reaktion des gereizten Badeſchwammes und vieler anderer Spongien. III. B. Die Seele nervenloſer Metazoen. Von ganz be- ſonderem Intereſſe für die vergleichende Pſychologie im Allge- meinen und für die Phylogenie der Thierſeele im Beſonderen iſt die Seelenthätigkeit jener niederen Metazoen, welche zwar Gewebe und oft bereits differenzirte Organe beſitzen, aber weder Nerven noch ſpecifiſche Sinnesorgane. Dahin gehören vier verſchiedene Gruppen von älteſten Cölenterien oder Niederthieren, nämlich: 1. die Gaſträaden, 2. die Plato- darien, 3. die Spongien und 4. die Hydropolypen, die niederſten Formen der Neſſelthiere. Die Gaſträaden oder Urdarmthiere bilden jene kleine Gruppe von niederſten Cölenterien, welche als die gemeinſame Stammgruppe aller Metazoen von höchſter Wichtigkeit iſt. Der Körper dieſer kleinen, ſchwimmenden Thierchen erſcheint als ein kleines (meiſt eiförmiges) Bläschen, welches eine einfache Höhle mit einer Oeffnung enthält (Urdarm und Urmund). Die Wand der verdauenden Höhle wird aus zwei einfachen Zellenſchichten oder Epithelien gebildet, von denen die innere (Darmblatt) die vegetalen Thätigkeiten der Ernährung und die äußere (Haut- blatt) die animalen Funktionen der Bewegung und Empfindung vermittelt. Die gleichartigen ſenſiblen Zellen dieſes Hautblattes tragen zarte Geißeln, lange Flimmerhaare, deren Schwingungen die willkürliche Schwimmbewegung bewirken. Die wenigen noch lebenden Formen der Gaſträaden, die Gaſtremarien (Tricho- placiden) und Cyemarien (Orthonectiden), ſind deßhalb ſo intereſſant, weil ſie zeitlebens auf derſelben Bildungsſtufe ſtehen bleiben, welche die Keime aller übrigen Metazoen (von den

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/200>, abgerufen am 26.04.2024.