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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VII. Primäre und sekundäre Instinkte.
Selektion (ebenso die künstliche wie die natürliche) trifft unter
diesen erblichen Abänderungen der Seelenthätigkeit eine Aus-
wahl, sie erhält die zweckmäßigsten und entfernt die weniger
passenden Modifikationen. IV. Die dadurch bedingte Diver-
genz
des psychischen Charakters führt so im Laufe der Gene-
rations-Folgen ebenso zur Entstehung neuer Instinkte, wie die
Divergenz des morphologischen Charakters zur Entstehung neuer
Species. Diese Instinkt-Theorie Darwin's ist jetzt von den
meisten Biologen angenommen; John Romanes hat dieselbe
in seinem ausgezeichneten Werke über "Die geistige Entwickelung
im Thierreiche" (1885) so eingehend behandelt und so wesentlich
erweitert, daß ich hier lediglich darauf verweisen kann. Ich will
nur kurz bemerken, daß nach meiner Ansicht Instinkte bei
allen Organismen vorkommen, bei sämmtlichen Protisten und
Pflanzen ebenso wie bei sämmtlichen Thieren und Menschen; sie
treten aber bei letzteren um so mehr zurück, je mehr sich auf
ihre Kosten die Vernunft entwickelt.

Als zwei Hauptklassen sind unter den unzähligen Instinkt-
Formen die primären und sekundären zu unterscheiden; primäre
Instinkte
sind die allgemeinen niederen Triebe, welche dem
Psychoplasma von Beginn des organischen Lebens inne-
wohnten und unbewußt waren, vor Allem die Triebe der Selbst-
erhaltung (Schutz und Ernährung), und der Arterhaltung (Fort-
pflanzung und Brutpflege). Diese beiden Grundtriebe des
organischen Lebens, Hunger und Liebe, sind ursprünglich
überall unbewußt, ohne Mitwirkung des Verstandes oder der
Vernunft entstanden; bei höheren Thieren sind sie später, wie
beim Menschen, Gegenstände des Bewußtseins geworden. Um-
gekehrt verhält es sich mit den sekundären Instinkten;
diese sind ursprünglich durch intelligente Anpassung entstanden,
durch verständiges Nachdenken und Schließen, sowie zweckmäßiges
bewußtes Handeln; allmählich sind sie so zur Gewohnheit ge-

VII. Primäre und ſekundäre Inſtinkte.
Selektion (ebenſo die künſtliche wie die natürliche) trifft unter
dieſen erblichen Abänderungen der Seelenthätigkeit eine Aus-
wahl, ſie erhält die zweckmäßigſten und entfernt die weniger
paſſenden Modifikationen. IV. Die dadurch bedingte Diver-
genz
des pſychiſchen Charakters führt ſo im Laufe der Gene-
rations-Folgen ebenſo zur Entſtehung neuer Inſtinkte, wie die
Divergenz des morphologiſchen Charakters zur Entſtehung neuer
Species. Dieſe Inſtinkt-Theorie Darwin's iſt jetzt von den
meiſten Biologen angenommen; John Romanes hat dieſelbe
in ſeinem ausgezeichneten Werke über „Die geiſtige Entwickelung
im Thierreiche“ (1885) ſo eingehend behandelt und ſo weſentlich
erweitert, daß ich hier lediglich darauf verweiſen kann. Ich will
nur kurz bemerken, daß nach meiner Anſicht Inſtinkte bei
allen Organismen vorkommen, bei ſämmtlichen Protiſten und
Pflanzen ebenſo wie bei ſämmtlichen Thieren und Menſchen; ſie
treten aber bei letzteren um ſo mehr zurück, je mehr ſich auf
ihre Koſten die Vernunft entwickelt.

Als zwei Hauptklaſſen ſind unter den unzähligen Inſtinkt-
Formen die primären und ſekundären zu unterſcheiden; primäre
Inſtinkte
ſind die allgemeinen niederen Triebe, welche dem
Pſychoplasma von Beginn des organiſchen Lebens inne-
wohnten und unbewußt waren, vor Allem die Triebe der Selbſt-
erhaltung (Schutz und Ernährung), und der Arterhaltung (Fort-
pflanzung und Brutpflege). Dieſe beiden Grundtriebe des
organiſchen Lebens, Hunger und Liebe, ſind urſprünglich
überall unbewußt, ohne Mitwirkung des Verſtandes oder der
Vernunft entſtanden; bei höheren Thieren ſind ſie ſpäter, wie
beim Menſchen, Gegenſtände des Bewußtſeins geworden. Um-
gekehrt verhält es ſich mit den ſekundären Inſtinkten;
dieſe ſind urſprünglich durch intelligente Anpaſſung entſtanden,
durch verſtändiges Nachdenken und Schließen, ſowie zweckmäßiges
bewußtes Handeln; allmählich ſind ſie ſo zur Gewohnheit ge-

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[143/0159] VII. Primäre und ſekundäre Inſtinkte. Selektion (ebenſo die künſtliche wie die natürliche) trifft unter dieſen erblichen Abänderungen der Seelenthätigkeit eine Aus- wahl, ſie erhält die zweckmäßigſten und entfernt die weniger paſſenden Modifikationen. IV. Die dadurch bedingte Diver- genz des pſychiſchen Charakters führt ſo im Laufe der Gene- rations-Folgen ebenſo zur Entſtehung neuer Inſtinkte, wie die Divergenz des morphologiſchen Charakters zur Entſtehung neuer Species. Dieſe Inſtinkt-Theorie Darwin's iſt jetzt von den meiſten Biologen angenommen; John Romanes hat dieſelbe in ſeinem ausgezeichneten Werke über „Die geiſtige Entwickelung im Thierreiche“ (1885) ſo eingehend behandelt und ſo weſentlich erweitert, daß ich hier lediglich darauf verweiſen kann. Ich will nur kurz bemerken, daß nach meiner Anſicht Inſtinkte bei allen Organismen vorkommen, bei ſämmtlichen Protiſten und Pflanzen ebenſo wie bei ſämmtlichen Thieren und Menſchen; ſie treten aber bei letzteren um ſo mehr zurück, je mehr ſich auf ihre Koſten die Vernunft entwickelt. Als zwei Hauptklaſſen ſind unter den unzähligen Inſtinkt- Formen die primären und ſekundären zu unterſcheiden; primäre Inſtinkte ſind die allgemeinen niederen Triebe, welche dem Pſychoplasma von Beginn des organiſchen Lebens inne- wohnten und unbewußt waren, vor Allem die Triebe der Selbſt- erhaltung (Schutz und Ernährung), und der Arterhaltung (Fort- pflanzung und Brutpflege). Dieſe beiden Grundtriebe des organiſchen Lebens, Hunger und Liebe, ſind urſprünglich überall unbewußt, ohne Mitwirkung des Verſtandes oder der Vernunft entſtanden; bei höheren Thieren ſind ſie ſpäter, wie beim Menſchen, Gegenſtände des Bewußtſeins geworden. Um- gekehrt verhält es ſich mit den ſekundären Inſtinkten; dieſe ſind urſprünglich durch intelligente Anpaſſung entſtanden, durch verſtändiges Nachdenken und Schließen, ſowie zweckmäßiges bewußtes Handeln; allmählich ſind ſie ſo zur Gewohnheit ge-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/159>, abgerufen am 26.04.2024.