Es waren einmal zwei Handwerkspursche, die wanderten zusammen und gelobten bei einander zu halten. Als sie aber in eine große Stadt ka- men, ward der eine ein Bruder Liederlich, ver- gaß sein Wort, verließ den andern und zog allein fort, hin und her; wo's am tollsten zuging war's ihm am liebsten. Der andere hielt seine Zeit aus, arbeitete fleißig und wanderte hernach wei- ter. Da kam er in der Nacht am Galgen vorbei, ohne daß er's wußte, aber auf der Erde sah er unten einen liegen und schlafen, der war dürftig und blos, und weil es sternenhell war, erkannte er seinen ehemaligen Gesellen. Da legte er sich neben ihn, deckte seinen Mantel über ihn und schlief ein. Es dauerte aber nicht lang, so wurde er von zwei Stimmen aufgeweckt, die sprachen mit einander, das waren zwei Raben, die saßen oben auf dem Galgen. Der eine sprach: "Gott ernährt!" der andere: "thu darnach!" und ei- ner fiel nach den Worten matt herab zur Erde, der andere blieb bei ihm sitzen und wartete bis es Tag war, da holte er etwas Gewürm und Was- ser, erfrischte ihn damit und erweckte ihn vom Tod. Wie die beiden Handwerksburschen das sahen, verwunderten sie sich und fragten den
Kindermährchen. II. M
33. Der Faule und der Fleißige.
Es waren einmal zwei Handwerkspurſche, die wanderten zuſammen und gelobten bei einander zu halten. Als ſie aber in eine große Stadt ka- men, ward der eine ein Bruder Liederlich, ver- gaß ſein Wort, verließ den andern und zog allein fort, hin und her; wo’s am tollſten zuging war’s ihm am liebſten. Der andere hielt ſeine Zeit aus, arbeitete fleißig und wanderte hernach wei- ter. Da kam er in der Nacht am Galgen vorbei, ohne daß er’s wußte, aber auf der Erde ſah er unten einen liegen und ſchlafen, der war duͤrftig und blos, und weil es ſternenhell war, erkannte er ſeinen ehemaligen Geſellen. Da legte er ſich neben ihn, deckte ſeinen Mantel uͤber ihn und ſchlief ein. Es dauerte aber nicht lang, ſo wurde er von zwei Stimmen aufgeweckt, die ſprachen mit einander, das waren zwei Raben, die ſaßen oben auf dem Galgen. Der eine ſprach: „Gott ernaͤhrt!“ der andere: „thu darnach!“ und ei- ner fiel nach den Worten matt herab zur Erde, der andere blieb bei ihm ſitzen und wartete bis es Tag war, da holte er etwas Gewuͤrm und Waſ- ſer, erfriſchte ihn damit und erweckte ihn vom Tod. Wie die beiden Handwerksburſchen das ſahen, verwunderten ſie ſich und fragten den
Kindermährchen. II. M
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33.
Der Faule und der Fleißige.
Es waren einmal zwei Handwerkspurſche, die
wanderten zuſammen und gelobten bei einander
zu halten. Als ſie aber in eine große Stadt ka-
men, ward der eine ein Bruder Liederlich, ver-
gaß ſein Wort, verließ den andern und zog allein
fort, hin und her; wo’s am tollſten zuging war’s
ihm am liebſten. Der andere hielt ſeine Zeit
aus, arbeitete fleißig und wanderte hernach wei-
ter. Da kam er in der Nacht am Galgen vorbei,
ohne daß er’s wußte, aber auf der Erde ſah er
unten einen liegen und ſchlafen, der war duͤrftig
und blos, und weil es ſternenhell war, erkannte
er ſeinen ehemaligen Geſellen. Da legte er ſich
neben ihn, deckte ſeinen Mantel uͤber ihn und
ſchlief ein. Es dauerte aber nicht lang, ſo wurde
er von zwei Stimmen aufgeweckt, die ſprachen
mit einander, das waren zwei Raben, die ſaßen
oben auf dem Galgen. Der eine ſprach: „Gott
ernaͤhrt!“ der andere: „thu darnach!“ und ei-
ner fiel nach den Worten matt herab zur Erde,
der andere blieb bei ihm ſitzen und wartete bis
es Tag war, da holte er etwas Gewuͤrm und Waſ-
ſer, erfriſchte ihn damit und erweckte ihn vom
Tod. Wie die beiden Handwerksburſchen das
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/198>, abgerufen am 18.11.2024.
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