Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite
III. von der ableitung im allgemeinen.

11) es ist darum schwierig, den auf der ablautung
beruhenden wechsel der bedeutung rein zu erfaßen,
weil, wie gleich oben s. 3. bemerkt wurde, selten
oder nie nakte wurzeln vorliegen, vielmehr ursprüng-
lich überall flexionen, häufig ableitungen im spiel sind,
deren einfluß auf modificationen der urbedeutung
schwer anzugeben steht. Unabgeleitet sind in der regel
nur die starken verba und nur die einfachen nomina
erster und vierter starker declination. Nützlich, aber
leicht wäre es, die im zweiten buche angegebenen
substantiva und adjectiva nach den reihen der ablaute
eigens zusammenzustellen; verwaiste wurzeln, deren for-
mel zweimahl vorkommt, hätte man dabei vorläufig dop-
pelt einzutragen. Wenn aber jene behauptung, daß an-
fänglich nie weder laut noch ablaut der wurzel bloß ge-
standen habe, richtig ist; so könnte man, da die lehre
vom laut und ablaut in das zweite buch gehört, das im
gegenwärtigen capitel vorgetragene überhaupt aus der
lehre von der wortbildung verweisen. Historisch scheint
es mir jedoch passender, weil so viele starke verba aus-
gestorben sind, ihre wirkung und nachwirkung zusam-
menzufaßen und als ein princip innerer wortbildung auf-
zustellen, wie ich gethan habe.


ZWEITES CAPITEL.
VON DER ABLEITUNG.

Allgemeine grundsätze: 1) ableitung heißt die zwi-
schen wurzel und flexion eingeschaltete, an sich selbst
dunkele mehrung des worts, kraft welcher der begriff
der wurzel weiter geleitet und bestimmt wird. Sprach-
verderbnis pflegt aber häufig bald die ableitung, bald die
flexion, zuweilen beide miteinander zu zerstören. Ohne
sie in solchen fällen historisch herzustellen läßt sich die
spätere wortform nicht gehörig verstehen, z. b. das alth.
reda, sunu muß ergänzt werden: rad-i-a, sun-u-s,
das engl. tell: tal-i-an. Practisch findet sich die ablei-
tung, bei vernichteter flexion, freilich oft zu ende des
worts, z. b. alth. mah-t (vis) goth. mah-t-s; oder
goth. mah-t (vim) früher mah-t-a? Auf die ableitung
folgt aber theoretisch immer noch die flexion, auf die
flexion folgt nichts mehr.

III. von der ableitung im allgemeinen.

11) es iſt darum ſchwierig, den auf der ablautung
beruhenden wechſel der bedeutung rein zu erfaßen,
weil, wie gleich oben ſ. 3. bemerkt wurde, ſelten
oder nie nakte wurzeln vorliegen, vielmehr urſprüng-
lich überall flexionen, häufig ableitungen im ſpiel ſind,
deren einfluß auf modificationen der urbedeutung
ſchwer anzugeben ſteht. Unabgeleitet ſind in der regel
nur die ſtarken verba und nur die einfachen nomina
erſter und vierter ſtarker declination. Nützlich, aber
leicht wäre es, die im zweiten buche angegebenen
ſubſtantiva und adjectiva nach den reihen der ablaute
eigens zuſammenzuſtellen; verwaiſte wurzeln, deren for-
mel zweimahl vorkommt, hätte man dabei vorläufig dop-
pelt einzutragen. Wenn aber jene behauptung, daß an-
fänglich nie weder laut noch ablaut der wurzel bloß ge-
ſtanden habe, richtig iſt; ſo könnte man, da die lehre
vom laut und ablaut in das zweite buch gehört, das im
gegenwärtigen capitel vorgetragene überhaupt aus der
lehre von der wortbildung verweiſen. Hiſtoriſch ſcheint
es mir jedoch paſſender, weil ſo viele ſtarke verba aus-
geſtorben ſind, ihre wirkung und nachwirkung zuſam-
menzufaßen und als ein princip innerer wortbildung auf-
zuſtellen, wie ich gethan habe.


ZWEITES CAPITEL.
VON DER ABLEITUNG.

Allgemeine grundſätze: 1) ableitung heißt die zwi-
ſchen wurzel und flexion eingeſchaltete, an ſich ſelbſt
dunkele mehrung des worts, kraft welcher der begriff
der wurzel weiter geleitet und beſtimmt wird. Sprach-
verderbnis pflegt aber häufig bald die ableitung, bald die
flexion, zuweilen beide miteinander zu zerſtören. Ohne
ſie in ſolchen fällen hiſtoriſch herzuſtellen läßt ſich die
ſpätere wortform nicht gehörig verſtehen, z. b. das alth.
reda, ſunu muß ergänzt werden: rad-i-a, ſun-u-s,
das engl. tell: tal-i-an. Practiſch findet ſich die ablei-
tung, bei vernichteter flexion, freilich oft zu ende des
worts, z. b. alth. mah-t (vis) goth. mah-t-s; oder
goth. mah-t (vim) früher mah-t-a? Auf die ableitung
folgt aber theoretiſch immer noch die flexion, auf die
flexion folgt nichts mehr.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0107" n="89"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">III. <hi rendition="#i">von der ableitung im allgemeinen.</hi></hi> </fw><lb/>
            <p>11) es i&#x017F;t darum &#x017F;chwierig, den auf der ablautung<lb/>
beruhenden wech&#x017F;el der bedeutung rein zu erfaßen,<lb/>
weil, wie gleich oben &#x017F;. 3. bemerkt wurde, &#x017F;elten<lb/>
oder nie nakte wurzeln vorliegen, vielmehr ur&#x017F;prüng-<lb/>
lich überall flexionen, häufig ableitungen im &#x017F;piel &#x017F;ind,<lb/>
deren einfluß auf modificationen der urbedeutung<lb/>
&#x017F;chwer anzugeben &#x017F;teht. Unabgeleitet &#x017F;ind in der regel<lb/>
nur die &#x017F;tarken verba und nur die einfachen nomina<lb/>
er&#x017F;ter und vierter &#x017F;tarker declination. Nützlich, aber<lb/>
leicht wäre es, die im zweiten buche angegebenen<lb/>
&#x017F;ub&#x017F;tantiva und adjectiva nach den reihen der ablaute<lb/>
eigens zu&#x017F;ammenzu&#x017F;tellen; verwai&#x017F;te wurzeln, deren for-<lb/>
mel zweimahl vorkommt, hätte man dabei vorläufig dop-<lb/>
pelt einzutragen. Wenn aber jene behauptung, daß an-<lb/>
fänglich nie weder laut noch ablaut der wurzel bloß ge-<lb/>
&#x017F;tanden habe, richtig i&#x017F;t; &#x017F;o könnte man, da die lehre<lb/>
vom laut und ablaut in das zweite buch gehört, das im<lb/>
gegenwärtigen capitel vorgetragene überhaupt aus der<lb/>
lehre von der wortbildung verwei&#x017F;en. Hi&#x017F;tori&#x017F;ch &#x017F;cheint<lb/>
es mir jedoch pa&#x017F;&#x017F;ender, weil &#x017F;o viele &#x017F;tarke verba aus-<lb/>
ge&#x017F;torben &#x017F;ind, ihre wirkung und nachwirkung zu&#x017F;am-<lb/>
menzufaßen und als ein princip innerer wortbildung auf-<lb/>
zu&#x017F;tellen, wie ich gethan habe.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">ZWEITES CAPITEL</hi>.<lb/><hi rendition="#g">VON DER ABLEITUNG</hi>.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#i">Allgemeine grund&#x017F;ätze:</hi> 1) <hi rendition="#i">ableitung</hi> heißt die zwi-<lb/>
&#x017F;chen wurzel und flexion einge&#x017F;chaltete, an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
dunkele mehrung des worts, kraft welcher der begriff<lb/>
der wurzel weiter geleitet und be&#x017F;timmt wird. Sprach-<lb/>
verderbnis pflegt aber häufig bald die ableitung, bald die<lb/>
flexion, zuweilen beide miteinander zu zer&#x017F;tören. Ohne<lb/>
&#x017F;ie in &#x017F;olchen fällen hi&#x017F;tori&#x017F;ch herzu&#x017F;tellen läßt &#x017F;ich die<lb/>
&#x017F;pätere wortform nicht gehörig ver&#x017F;tehen, z. b. das alth.<lb/>
reda, &#x017F;unu muß ergänzt werden: rad-i-a, &#x017F;un-u-s,<lb/>
das engl. tell: tal-i-an. Practi&#x017F;ch findet &#x017F;ich die ablei-<lb/>
tung, bei vernichteter flexion, freilich oft zu ende des<lb/>
worts, z. b. alth. mah-t (vis) goth. mah-t-s; oder<lb/>
goth. mah-t (vim) früher mah-t-a? Auf die ableitung<lb/>
folgt aber theoreti&#x017F;ch immer noch die flexion, auf die<lb/>
flexion folgt nichts mehr.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[89/0107] III. von der ableitung im allgemeinen. 11) es iſt darum ſchwierig, den auf der ablautung beruhenden wechſel der bedeutung rein zu erfaßen, weil, wie gleich oben ſ. 3. bemerkt wurde, ſelten oder nie nakte wurzeln vorliegen, vielmehr urſprüng- lich überall flexionen, häufig ableitungen im ſpiel ſind, deren einfluß auf modificationen der urbedeutung ſchwer anzugeben ſteht. Unabgeleitet ſind in der regel nur die ſtarken verba und nur die einfachen nomina erſter und vierter ſtarker declination. Nützlich, aber leicht wäre es, die im zweiten buche angegebenen ſubſtantiva und adjectiva nach den reihen der ablaute eigens zuſammenzuſtellen; verwaiſte wurzeln, deren for- mel zweimahl vorkommt, hätte man dabei vorläufig dop- pelt einzutragen. Wenn aber jene behauptung, daß an- fänglich nie weder laut noch ablaut der wurzel bloß ge- ſtanden habe, richtig iſt; ſo könnte man, da die lehre vom laut und ablaut in das zweite buch gehört, das im gegenwärtigen capitel vorgetragene überhaupt aus der lehre von der wortbildung verweiſen. Hiſtoriſch ſcheint es mir jedoch paſſender, weil ſo viele ſtarke verba aus- geſtorben ſind, ihre wirkung und nachwirkung zuſam- menzufaßen und als ein princip innerer wortbildung auf- zuſtellen, wie ich gethan habe. ZWEITES CAPITEL. VON DER ABLEITUNG. Allgemeine grundſätze: 1) ableitung heißt die zwi- ſchen wurzel und flexion eingeſchaltete, an ſich ſelbſt dunkele mehrung des worts, kraft welcher der begriff der wurzel weiter geleitet und beſtimmt wird. Sprach- verderbnis pflegt aber häufig bald die ableitung, bald die flexion, zuweilen beide miteinander zu zerſtören. Ohne ſie in ſolchen fällen hiſtoriſch herzuſtellen läßt ſich die ſpätere wortform nicht gehörig verſtehen, z. b. das alth. reda, ſunu muß ergänzt werden: rad-i-a, ſun-u-s, das engl. tell: tal-i-an. Practiſch findet ſich die ablei- tung, bei vernichteter flexion, freilich oft zu ende des worts, z. b. alth. mah-t (vis) goth. mah-t-s; oder goth. mah-t (vim) früher mah-t-a? Auf die ableitung folgt aber theoretiſch immer noch die flexion, auf die flexion folgt nichts mehr.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/107
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/107>, abgerufen am 30.12.2024.