11) es ist darum schwierig, den auf der ablautung beruhenden wechsel der bedeutung rein zu erfaßen, weil, wie gleich oben s. 3. bemerkt wurde, selten oder nie nakte wurzeln vorliegen, vielmehr ursprüng- lich überall flexionen, häufig ableitungen im spiel sind, deren einfluß auf modificationen der urbedeutung schwer anzugeben steht. Unabgeleitet sind in der regel nur die starken verba und nur die einfachen nomina erster und vierter starker declination. Nützlich, aber leicht wäre es, die im zweiten buche angegebenen substantiva und adjectiva nach den reihen der ablaute eigens zusammenzustellen; verwaiste wurzeln, deren for- mel zweimahl vorkommt, hätte man dabei vorläufig dop- pelt einzutragen. Wenn aber jene behauptung, daß an- fänglich nie weder laut noch ablaut der wurzel bloß ge- standen habe, richtig ist; so könnte man, da die lehre vom laut und ablaut in das zweite buch gehört, das im gegenwärtigen capitel vorgetragene überhaupt aus der lehre von der wortbildung verweisen. Historisch scheint es mir jedoch passender, weil so viele starke verba aus- gestorben sind, ihre wirkung und nachwirkung zusam- menzufaßen und als ein princip innerer wortbildung auf- zustellen, wie ich gethan habe.
ZWEITES CAPITEL. VON DER ABLEITUNG.
Allgemeine grundsätze: 1) ableitung heißt die zwi- schen wurzel und flexion eingeschaltete, an sich selbst dunkele mehrung des worts, kraft welcher der begriff der wurzel weiter geleitet und bestimmt wird. Sprach- verderbnis pflegt aber häufig bald die ableitung, bald die flexion, zuweilen beide miteinander zu zerstören. Ohne sie in solchen fällen historisch herzustellen läßt sich die spätere wortform nicht gehörig verstehen, z. b. das alth. reda, sunu muß ergänzt werden: rad-i-a, sun-u-s, das engl. tell: tal-i-an. Practisch findet sich die ablei- tung, bei vernichteter flexion, freilich oft zu ende des worts, z. b. alth. mah-t (vis) goth. mah-t-s; oder goth. mah-t (vim) früher mah-t-a? Auf die ableitung folgt aber theoretisch immer noch die flexion, auf die flexion folgt nichts mehr.
III. von der ableitung im allgemeinen.
11) es iſt darum ſchwierig, den auf der ablautung beruhenden wechſel der bedeutung rein zu erfaßen, weil, wie gleich oben ſ. 3. bemerkt wurde, ſelten oder nie nakte wurzeln vorliegen, vielmehr urſprüng- lich überall flexionen, häufig ableitungen im ſpiel ſind, deren einfluß auf modificationen der urbedeutung ſchwer anzugeben ſteht. Unabgeleitet ſind in der regel nur die ſtarken verba und nur die einfachen nomina erſter und vierter ſtarker declination. Nützlich, aber leicht wäre es, die im zweiten buche angegebenen ſubſtantiva und adjectiva nach den reihen der ablaute eigens zuſammenzuſtellen; verwaiſte wurzeln, deren for- mel zweimahl vorkommt, hätte man dabei vorläufig dop- pelt einzutragen. Wenn aber jene behauptung, daß an- fänglich nie weder laut noch ablaut der wurzel bloß ge- ſtanden habe, richtig iſt; ſo könnte man, da die lehre vom laut und ablaut in das zweite buch gehört, das im gegenwärtigen capitel vorgetragene überhaupt aus der lehre von der wortbildung verweiſen. Hiſtoriſch ſcheint es mir jedoch paſſender, weil ſo viele ſtarke verba aus- geſtorben ſind, ihre wirkung und nachwirkung zuſam- menzufaßen und als ein princip innerer wortbildung auf- zuſtellen, wie ich gethan habe.
ZWEITES CAPITEL. VON DER ABLEITUNG.
Allgemeine grundſätze: 1) ableitung heißt die zwi- ſchen wurzel und flexion eingeſchaltete, an ſich ſelbſt dunkele mehrung des worts, kraft welcher der begriff der wurzel weiter geleitet und beſtimmt wird. Sprach- verderbnis pflegt aber häufig bald die ableitung, bald die flexion, zuweilen beide miteinander zu zerſtören. Ohne ſie in ſolchen fällen hiſtoriſch herzuſtellen läßt ſich die ſpätere wortform nicht gehörig verſtehen, z. b. das alth. reda, ſunu muß ergänzt werden: rad-i-a, ſun-u-s, das engl. tell: tal-i-an. Practiſch findet ſich die ablei- tung, bei vernichteter flexion, freilich oft zu ende des worts, z. b. alth. mah-t (vis) goth. mah-t-s; oder goth. mah-t (vim) früher mah-t-a? Auf die ableitung folgt aber theoretiſch immer noch die flexion, auf die flexion folgt nichts mehr.
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III. von der ableitung im allgemeinen.
11) es iſt darum ſchwierig, den auf der ablautung
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weil, wie gleich oben ſ. 3. bemerkt wurde, ſelten
oder nie nakte wurzeln vorliegen, vielmehr urſprüng-
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deren einfluß auf modificationen der urbedeutung
ſchwer anzugeben ſteht. Unabgeleitet ſind in der regel
nur die ſtarken verba und nur die einfachen nomina
erſter und vierter ſtarker declination. Nützlich, aber
leicht wäre es, die im zweiten buche angegebenen
ſubſtantiva und adjectiva nach den reihen der ablaute
eigens zuſammenzuſtellen; verwaiſte wurzeln, deren for-
mel zweimahl vorkommt, hätte man dabei vorläufig dop-
pelt einzutragen. Wenn aber jene behauptung, daß an-
fänglich nie weder laut noch ablaut der wurzel bloß ge-
ſtanden habe, richtig iſt; ſo könnte man, da die lehre
vom laut und ablaut in das zweite buch gehört, das im
gegenwärtigen capitel vorgetragene überhaupt aus der
lehre von der wortbildung verweiſen. Hiſtoriſch ſcheint
es mir jedoch paſſender, weil ſo viele ſtarke verba aus-
geſtorben ſind, ihre wirkung und nachwirkung zuſam-
menzufaßen und als ein princip innerer wortbildung auf-
zuſtellen, wie ich gethan habe.
ZWEITES CAPITEL.
VON DER ABLEITUNG.
Allgemeine grundſätze: 1) ableitung heißt die zwi-
ſchen wurzel und flexion eingeſchaltete, an ſich ſelbſt
dunkele mehrung des worts, kraft welcher der begriff
der wurzel weiter geleitet und beſtimmt wird. Sprach-
verderbnis pflegt aber häufig bald die ableitung, bald die
flexion, zuweilen beide miteinander zu zerſtören. Ohne
ſie in ſolchen fällen hiſtoriſch herzuſtellen läßt ſich die
ſpätere wortform nicht gehörig verſtehen, z. b. das alth.
reda, ſunu muß ergänzt werden: rad-i-a, ſun-u-s,
das engl. tell: tal-i-an. Practiſch findet ſich die ablei-
tung, bei vernichteter flexion, freilich oft zu ende des
worts, z. b. alth. mah-t (vis) goth. mah-t-s; oder
goth. mah-t (vim) früher mah-t-a? Auf die ableitung
folgt aber theoretiſch immer noch die flexion, auf die
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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/107>, abgerufen am 21.11.2024.
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