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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Briefwechsel zwischen einer Phantastin und einem Bürokraten

das, was der Mediziner unabgestimmte, unspezifische Immunität nennt, erwerben
kann, wozu Zeit gehört, dann darf man hoffen. Manche Glieder unseres Körpers
werden von der Genesung noch absterben, auch schmerzlich vermißte, unverge߬
liche, unwiederherstellbare. Die Deutschenausrottungen in Polen und Böhmen
z. B. sind Amputationen, für die es schwerlich chronische Mittel gibt. Aber daK
Leben kann sich wunderbar regenerieren. Es kann auch nach langer Latenz wieder
erwachen, wenn nur die Lebenskraft bleibt. Und diese spüren wir. Sie heißt
Vaterlandsliebe. Sie tastet nach neuen Formen. Das Tasten ist vorerst wich¬
tiger, als die Formen. Ein paar gesunde, wachstumsfähige Zellen sind mehr als
ein im Abbau befindlicher großer Körper.

Es wäre schwere Selbsttäuschung, irgendwo in Deutschland oder in der Welt
Ansatzpunkte für eine rasche Wiederherstellung wie nach '1806 zik> vermuten.
Die Arbeit des Patrioten, die wirklich in die Zukunft weist, kann sich heut"
weniger auf die überkommenen Formen unseres öffentlichen Lebens beziehen,
als vielmehr auf die Keimzellen des Vatcrlandsgefühls, welches in sich bei aller
Unfertigkeit der Formen den Grundriß einer künftigen Nation enthält.




Briefwechsel zwischen einer phantastin und einem
Bürokraten
Unterstaatssekrelär a. v. Lrhr. v. Falkenhausen v Ricarda Huch onund

Mein hochgeehrter Freund!

OK
WMgibt einen verbreiteten Irrwahn, alle Leiden durch ein einziges
Mittel kurieren zu wollen, und dem möchte auch ich einmal fröhnen,
indem ich jegliches Rbel auf die Neigung zurückführe, ein entweder--
oder anstatt eines: sowohl als auch zu setzen. Die Wahrheit liegt,
das lehrte schon antike Weisheit, in der Mitte, welches Mittelmaß
nicht weniger als zwei Gegensätze enthält, sondern beide zusammenfaßt, also das
ist, was man heute Synthese zu nennen pflegt. Wie es mit meiner These nun
auch im allgemeinen beschaffen sein mag, so glaube ich, daß sie für Ihren, mir
trotzdem höchst wertvollen Brief*) zutrifft, wo Sie zwei Gegensätze gegenüberstellen,
von denen keiner für sich befriedigen kann, so daß derjenige, der zwischen beiden
wählen müßte, beinah in der Lage des Verurteilten wäre, der sich zwischen Ge-
denkt- und Geköpftwerden zu entscheiden hätte.



*) Demokratie und Obrigkeitsstaat (Bürokratenbriefe Ur. I) von Frhrn. v. Falken¬
hausen (Grenzboten Ur. 44/46 vom November vorigen Jahres).
Briefwechsel zwischen einer Phantastin und einem Bürokraten

das, was der Mediziner unabgestimmte, unspezifische Immunität nennt, erwerben
kann, wozu Zeit gehört, dann darf man hoffen. Manche Glieder unseres Körpers
werden von der Genesung noch absterben, auch schmerzlich vermißte, unverge߬
liche, unwiederherstellbare. Die Deutschenausrottungen in Polen und Böhmen
z. B. sind Amputationen, für die es schwerlich chronische Mittel gibt. Aber daK
Leben kann sich wunderbar regenerieren. Es kann auch nach langer Latenz wieder
erwachen, wenn nur die Lebenskraft bleibt. Und diese spüren wir. Sie heißt
Vaterlandsliebe. Sie tastet nach neuen Formen. Das Tasten ist vorerst wich¬
tiger, als die Formen. Ein paar gesunde, wachstumsfähige Zellen sind mehr als
ein im Abbau befindlicher großer Körper.

Es wäre schwere Selbsttäuschung, irgendwo in Deutschland oder in der Welt
Ansatzpunkte für eine rasche Wiederherstellung wie nach '1806 zik> vermuten.
Die Arbeit des Patrioten, die wirklich in die Zukunft weist, kann sich heut»
weniger auf die überkommenen Formen unseres öffentlichen Lebens beziehen,
als vielmehr auf die Keimzellen des Vatcrlandsgefühls, welches in sich bei aller
Unfertigkeit der Formen den Grundriß einer künftigen Nation enthält.




Briefwechsel zwischen einer phantastin und einem
Bürokraten
Unterstaatssekrelär a. v. Lrhr. v. Falkenhausen v Ricarda Huch onund

Mein hochgeehrter Freund!

OK
WMgibt einen verbreiteten Irrwahn, alle Leiden durch ein einziges
Mittel kurieren zu wollen, und dem möchte auch ich einmal fröhnen,
indem ich jegliches Rbel auf die Neigung zurückführe, ein entweder—
oder anstatt eines: sowohl als auch zu setzen. Die Wahrheit liegt,
das lehrte schon antike Weisheit, in der Mitte, welches Mittelmaß
nicht weniger als zwei Gegensätze enthält, sondern beide zusammenfaßt, also das
ist, was man heute Synthese zu nennen pflegt. Wie es mit meiner These nun
auch im allgemeinen beschaffen sein mag, so glaube ich, daß sie für Ihren, mir
trotzdem höchst wertvollen Brief*) zutrifft, wo Sie zwei Gegensätze gegenüberstellen,
von denen keiner für sich befriedigen kann, so daß derjenige, der zwischen beiden
wählen müßte, beinah in der Lage des Verurteilten wäre, der sich zwischen Ge-
denkt- und Geköpftwerden zu entscheiden hätte.



*) Demokratie und Obrigkeitsstaat (Bürokratenbriefe Ur. I) von Frhrn. v. Falken¬
hausen (Grenzboten Ur. 44/46 vom November vorigen Jahres).
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[0147] Briefwechsel zwischen einer Phantastin und einem Bürokraten das, was der Mediziner unabgestimmte, unspezifische Immunität nennt, erwerben kann, wozu Zeit gehört, dann darf man hoffen. Manche Glieder unseres Körpers werden von der Genesung noch absterben, auch schmerzlich vermißte, unverge߬ liche, unwiederherstellbare. Die Deutschenausrottungen in Polen und Böhmen z. B. sind Amputationen, für die es schwerlich chronische Mittel gibt. Aber daK Leben kann sich wunderbar regenerieren. Es kann auch nach langer Latenz wieder erwachen, wenn nur die Lebenskraft bleibt. Und diese spüren wir. Sie heißt Vaterlandsliebe. Sie tastet nach neuen Formen. Das Tasten ist vorerst wich¬ tiger, als die Formen. Ein paar gesunde, wachstumsfähige Zellen sind mehr als ein im Abbau befindlicher großer Körper. Es wäre schwere Selbsttäuschung, irgendwo in Deutschland oder in der Welt Ansatzpunkte für eine rasche Wiederherstellung wie nach '1806 zik> vermuten. Die Arbeit des Patrioten, die wirklich in die Zukunft weist, kann sich heut» weniger auf die überkommenen Formen unseres öffentlichen Lebens beziehen, als vielmehr auf die Keimzellen des Vatcrlandsgefühls, welches in sich bei aller Unfertigkeit der Formen den Grundriß einer künftigen Nation enthält. Briefwechsel zwischen einer phantastin und einem Bürokraten Unterstaatssekrelär a. v. Lrhr. v. Falkenhausen v Ricarda Huch onund Mein hochgeehrter Freund! OK WMgibt einen verbreiteten Irrwahn, alle Leiden durch ein einziges Mittel kurieren zu wollen, und dem möchte auch ich einmal fröhnen, indem ich jegliches Rbel auf die Neigung zurückführe, ein entweder— oder anstatt eines: sowohl als auch zu setzen. Die Wahrheit liegt, das lehrte schon antike Weisheit, in der Mitte, welches Mittelmaß nicht weniger als zwei Gegensätze enthält, sondern beide zusammenfaßt, also das ist, was man heute Synthese zu nennen pflegt. Wie es mit meiner These nun auch im allgemeinen beschaffen sein mag, so glaube ich, daß sie für Ihren, mir trotzdem höchst wertvollen Brief*) zutrifft, wo Sie zwei Gegensätze gegenüberstellen, von denen keiner für sich befriedigen kann, so daß derjenige, der zwischen beiden wählen müßte, beinah in der Lage des Verurteilten wäre, der sich zwischen Ge- denkt- und Geköpftwerden zu entscheiden hätte. *) Demokratie und Obrigkeitsstaat (Bürokratenbriefe Ur. I) von Frhrn. v. Falken¬ hausen (Grenzboten Ur. 44/46 vom November vorigen Jahres).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/147>, abgerufen am 22.12.2024.