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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Bülow, Tirpitz, Wirth und Rosen

deutschen Geschichte hatte es leichter, dem armen Volk die Augen zu öffnen?
Deutschland kauft sich Erfahrungen, teuer, schmerzlich genug. Aber Wirth und
Rosen kaufen nur Sand, uns in die Augen zu streuen, uns einzuschläfern, damit
wir für den furchtbaren Preis, den wir zahlen, nicht einmal klug werden, sondern
unpraktisch, uneinig, unerfahren in den Gesetzen der Politik und des Völkerdaseins
bleiben. Das hatte Bethmann so angefangen. Er hatte die Polen befreit, an
denen jetzt sogar -- man staunt -- die "Frankfurter Zeitung" irre wird, die
natürlich die Polen übermorgen abermals befreien würde, wenn sie morgen wieder
unterworfen wären. Das einzige Volk, welches sich dazu eignet, in ewiger innerer
und äußerer Zerrissenheit und Unfreiheit zu leben, ist das Volk, dem Elsaß,
Danzig, Osterreich usw. zugehören, das Volk des geographischen Begriffs, dessen
inertes Rumpfstück sich schon früher durch die Spottbezeichnung "Deutsches
Reich", lies Deutsches Arm, zu einem Imperialismus der Ohnmacht bekannt hat.
Wir verlangen vom Reichskanzler keine Wunderkuren, aber billigen es anch nicht,
daß er, den wunden Volkskörper auf Geheiß des Feindes schröpfend, dies für
eine Wunderkur ausgebe. Wir verlangen vor allem, daß er ein Arzt sei, der
Diagnosen stellen und dem Kranken sagen kann, woran er leidet.


3. EinGambetta an derStelle von Wirth und Rosen

Selbst Frankreich könnte uns nicht hindern, die einzigen Männer, deren
Stimme unser Volk heute heilen könnte, an die Spitze zu setzen. Aber wir
hindern uns selbst. Gambetta erhielt den Ehrennamen "Kriegsverlängerer" und die
Diktatur für das erste Friedensjahrzehnt des geschlagenen Frankreichs. Unseren
wenigen Staatsmännern folgt zum Dank dafür, daß ihre Ratschläge, wären sie befolgt
worden, den Krieg und später die Niederlage verhindert hätten, der Fluch eines selbst¬
mörderischen, verblendeten Volkes. Sie sind Reaktionäre, Orgeschleute, oder sonst was
Ruchloses.

Wenn wir aber durch ein Wunder das Volk hätten, das nach einen Gam¬
betta riefe, und sich seine Sehnsucht nach Stärke, Wahrheit und Klarheit nicht
durch die "Frankfurter Zeitung", den Altreichskanzler (Spuk)mulier und Wirth,
Spezialist der badischen Kammer a. D. für im preußischen Heeresdienst zurück¬
gesetzte Badener, versäuern ließe, dann würde sich die Politik eines solchen Mannes
und Volkes vielleicht in folgender Einführungsrede im Reichstag zusammen¬
drängen.

"Meine Herren, der Reichstag hatte früher nicht den Ruf, die Geburts¬
stätte heroischer Entschlüsse zu sein. Solange wir eine vom Reichstag unabhängige
Regierung und ein schlagbereites Heer hatten, konnte sich der Reichstag allen¬
falls die Spezialität leisten, den negativen Pol des nationalen Fühlens und
Wollens zu bilden. Heute, da er nicht nur souverän, sondern auch durch eine
lange Leidenszeit erzogen ist, wird der Reichstag endlich zum Führer in die
Zukunft. Wir haben unserer Jugend ins Auge geblickt und ihr Wunsch, ihr Be¬
gehren ist uns zum Auftrag geworden.

Wir haben uns überzeugt, daß die uns aufgebürdeten Lasten unerfüllbar
sind, schlimmer: daß sie nach dem Willen des zwar nicht siegreichen, aber über¬
mächtigen Frankreichs, dem wir ausgeliefert sind, gar nicht erfüllbar sein sollen.
Dies weiß auch die Welt; vor allem aber wissen wir es selbst. Wir haben des-


Bülow, Tirpitz, Wirth und Rosen

deutschen Geschichte hatte es leichter, dem armen Volk die Augen zu öffnen?
Deutschland kauft sich Erfahrungen, teuer, schmerzlich genug. Aber Wirth und
Rosen kaufen nur Sand, uns in die Augen zu streuen, uns einzuschläfern, damit
wir für den furchtbaren Preis, den wir zahlen, nicht einmal klug werden, sondern
unpraktisch, uneinig, unerfahren in den Gesetzen der Politik und des Völkerdaseins
bleiben. Das hatte Bethmann so angefangen. Er hatte die Polen befreit, an
denen jetzt sogar — man staunt — die „Frankfurter Zeitung" irre wird, die
natürlich die Polen übermorgen abermals befreien würde, wenn sie morgen wieder
unterworfen wären. Das einzige Volk, welches sich dazu eignet, in ewiger innerer
und äußerer Zerrissenheit und Unfreiheit zu leben, ist das Volk, dem Elsaß,
Danzig, Osterreich usw. zugehören, das Volk des geographischen Begriffs, dessen
inertes Rumpfstück sich schon früher durch die Spottbezeichnung „Deutsches
Reich", lies Deutsches Arm, zu einem Imperialismus der Ohnmacht bekannt hat.
Wir verlangen vom Reichskanzler keine Wunderkuren, aber billigen es anch nicht,
daß er, den wunden Volkskörper auf Geheiß des Feindes schröpfend, dies für
eine Wunderkur ausgebe. Wir verlangen vor allem, daß er ein Arzt sei, der
Diagnosen stellen und dem Kranken sagen kann, woran er leidet.


3. EinGambetta an derStelle von Wirth und Rosen

Selbst Frankreich könnte uns nicht hindern, die einzigen Männer, deren
Stimme unser Volk heute heilen könnte, an die Spitze zu setzen. Aber wir
hindern uns selbst. Gambetta erhielt den Ehrennamen „Kriegsverlängerer" und die
Diktatur für das erste Friedensjahrzehnt des geschlagenen Frankreichs. Unseren
wenigen Staatsmännern folgt zum Dank dafür, daß ihre Ratschläge, wären sie befolgt
worden, den Krieg und später die Niederlage verhindert hätten, der Fluch eines selbst¬
mörderischen, verblendeten Volkes. Sie sind Reaktionäre, Orgeschleute, oder sonst was
Ruchloses.

Wenn wir aber durch ein Wunder das Volk hätten, das nach einen Gam¬
betta riefe, und sich seine Sehnsucht nach Stärke, Wahrheit und Klarheit nicht
durch die „Frankfurter Zeitung", den Altreichskanzler (Spuk)mulier und Wirth,
Spezialist der badischen Kammer a. D. für im preußischen Heeresdienst zurück¬
gesetzte Badener, versäuern ließe, dann würde sich die Politik eines solchen Mannes
und Volkes vielleicht in folgender Einführungsrede im Reichstag zusammen¬
drängen.

„Meine Herren, der Reichstag hatte früher nicht den Ruf, die Geburts¬
stätte heroischer Entschlüsse zu sein. Solange wir eine vom Reichstag unabhängige
Regierung und ein schlagbereites Heer hatten, konnte sich der Reichstag allen¬
falls die Spezialität leisten, den negativen Pol des nationalen Fühlens und
Wollens zu bilden. Heute, da er nicht nur souverän, sondern auch durch eine
lange Leidenszeit erzogen ist, wird der Reichstag endlich zum Führer in die
Zukunft. Wir haben unserer Jugend ins Auge geblickt und ihr Wunsch, ihr Be¬
gehren ist uns zum Auftrag geworden.

Wir haben uns überzeugt, daß die uns aufgebürdeten Lasten unerfüllbar
sind, schlimmer: daß sie nach dem Willen des zwar nicht siegreichen, aber über¬
mächtigen Frankreichs, dem wir ausgeliefert sind, gar nicht erfüllbar sein sollen.
Dies weiß auch die Welt; vor allem aber wissen wir es selbst. Wir haben des-


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[0102] Bülow, Tirpitz, Wirth und Rosen deutschen Geschichte hatte es leichter, dem armen Volk die Augen zu öffnen? Deutschland kauft sich Erfahrungen, teuer, schmerzlich genug. Aber Wirth und Rosen kaufen nur Sand, uns in die Augen zu streuen, uns einzuschläfern, damit wir für den furchtbaren Preis, den wir zahlen, nicht einmal klug werden, sondern unpraktisch, uneinig, unerfahren in den Gesetzen der Politik und des Völkerdaseins bleiben. Das hatte Bethmann so angefangen. Er hatte die Polen befreit, an denen jetzt sogar — man staunt — die „Frankfurter Zeitung" irre wird, die natürlich die Polen übermorgen abermals befreien würde, wenn sie morgen wieder unterworfen wären. Das einzige Volk, welches sich dazu eignet, in ewiger innerer und äußerer Zerrissenheit und Unfreiheit zu leben, ist das Volk, dem Elsaß, Danzig, Osterreich usw. zugehören, das Volk des geographischen Begriffs, dessen inertes Rumpfstück sich schon früher durch die Spottbezeichnung „Deutsches Reich", lies Deutsches Arm, zu einem Imperialismus der Ohnmacht bekannt hat. Wir verlangen vom Reichskanzler keine Wunderkuren, aber billigen es anch nicht, daß er, den wunden Volkskörper auf Geheiß des Feindes schröpfend, dies für eine Wunderkur ausgebe. Wir verlangen vor allem, daß er ein Arzt sei, der Diagnosen stellen und dem Kranken sagen kann, woran er leidet. 3. EinGambetta an derStelle von Wirth und Rosen Selbst Frankreich könnte uns nicht hindern, die einzigen Männer, deren Stimme unser Volk heute heilen könnte, an die Spitze zu setzen. Aber wir hindern uns selbst. Gambetta erhielt den Ehrennamen „Kriegsverlängerer" und die Diktatur für das erste Friedensjahrzehnt des geschlagenen Frankreichs. Unseren wenigen Staatsmännern folgt zum Dank dafür, daß ihre Ratschläge, wären sie befolgt worden, den Krieg und später die Niederlage verhindert hätten, der Fluch eines selbst¬ mörderischen, verblendeten Volkes. Sie sind Reaktionäre, Orgeschleute, oder sonst was Ruchloses. Wenn wir aber durch ein Wunder das Volk hätten, das nach einen Gam¬ betta riefe, und sich seine Sehnsucht nach Stärke, Wahrheit und Klarheit nicht durch die „Frankfurter Zeitung", den Altreichskanzler (Spuk)mulier und Wirth, Spezialist der badischen Kammer a. D. für im preußischen Heeresdienst zurück¬ gesetzte Badener, versäuern ließe, dann würde sich die Politik eines solchen Mannes und Volkes vielleicht in folgender Einführungsrede im Reichstag zusammen¬ drängen. „Meine Herren, der Reichstag hatte früher nicht den Ruf, die Geburts¬ stätte heroischer Entschlüsse zu sein. Solange wir eine vom Reichstag unabhängige Regierung und ein schlagbereites Heer hatten, konnte sich der Reichstag allen¬ falls die Spezialität leisten, den negativen Pol des nationalen Fühlens und Wollens zu bilden. Heute, da er nicht nur souverän, sondern auch durch eine lange Leidenszeit erzogen ist, wird der Reichstag endlich zum Führer in die Zukunft. Wir haben unserer Jugend ins Auge geblickt und ihr Wunsch, ihr Be¬ gehren ist uns zum Auftrag geworden. Wir haben uns überzeugt, daß die uns aufgebürdeten Lasten unerfüllbar sind, schlimmer: daß sie nach dem Willen des zwar nicht siegreichen, aber über¬ mächtigen Frankreichs, dem wir ausgeliefert sind, gar nicht erfüllbar sein sollen. Dies weiß auch die Welt; vor allem aber wissen wir es selbst. Wir haben des-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/102>, abgerufen am 22.12.2024.