Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.den Massendelikten gegen das Gemeinwohl gegenübersteht, durch Zwang seine 4. So wie wir hier zusammengekommen sind, meine Herren, um Maßstäbe Wir haben zwei Grundtypen, die materiell gerichtete Gesellschaft und die ") F. Kern, Nuinsns civilitss. Staat, Kirche und Kulwr (Mittelalterliche Studien I),
Leipzig 1913. F. Kern, Dante. Tübingen 1914. den Massendelikten gegen das Gemeinwohl gegenübersteht, durch Zwang seine 4. So wie wir hier zusammengekommen sind, meine Herren, um Maßstäbe Wir haben zwei Grundtypen, die materiell gerichtete Gesellschaft und die ") F. Kern, Nuinsns civilitss. Staat, Kirche und Kulwr (Mittelalterliche Studien I),
Leipzig 1913. F. Kern, Dante. Tübingen 1914. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0253" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/338276"/> <p xml:id="ID_919" prev="#ID_918"> den Massendelikten gegen das Gemeinwohl gegenübersteht, durch Zwang seine<lb/> Autorität wieder zu erkämpfen. Aber nichts ist gefährlicher für die letzten Reste<lb/> von Staatsansehen als drakonische Drohungen, die auf dem Papier bleiben Je<lb/> weniger der Staat fertig bringt, desto leichter überschreit er sich. Milde Gesetze<lb/> und ihre stritte Befolgung sind das Zeichen einer gesunden Gemeinschaft, strenge<lb/> Gesetze und eine davon weit abweichende laxe Übung das Merkmal einer zerrissenen<lb/> Gesellschaft.</p><lb/> </div> <div n="3"> <head> 4.</head><lb/> <p xml:id="ID_920"> So wie wir hier zusammengekommen sind, meine Herren, um Maßstäbe<lb/> für das Ungeheure unserer weltgeschichtlich gewordenen Zeit zu finden, so ver¬<lb/> suchen es heute in Deutschland manche, die vielfach überlebten, für eine andere Zeit-<lb/> siimmurg geschaffenen Begriffe umzuschmelzcn und das verworrene Schicksal, das uns<lb/> alle umgibt, mit der Klarheit des Gedankens zu durchdringen. Meine wissenschaftliche<lb/> Überzeugung ist es, daß nichts rascher zum Mittelpunkt des Problems hinführt<lb/> als die alte christliche Gesellschaftslehre, — sowie überhaupt nichts in der<lb/> chaotischen Gegenwart mehr Zukunft hat als alte verdunkelte religiöse und sittliche<lb/> Wahrheiten. Lassen Sie mich darum einmal die Umbildung Deutschlands in<lb/> dieser unserer Zeit auffassen als ein gewaltiges Paradigma für die Gesellschafts¬<lb/> lehre, wie sie Ihnen aus den Bekenntmsschristen der evangelischen Kirche und<lb/> aus der Weisheit der Kirchenväter und der mittelalterlichen Denker entgegen¬<lb/> springt. Ich will versuchen, mit äußerster Kürze die wesentlichen Begriffe heraus¬<lb/> zuheben, wie sie mir aus Augustin und Dante, aus der Scholastik und der<lb/> Gedankenarbeit des christlichen Naturrechts geläufig find.*)</p><lb/> <p xml:id="ID_921"> Wir haben zwei Grundtypen, die materiell gerichtete Gesellschaft und die<lb/> idealistisch gerichtete Gemeinschaft, civitss terrens und civitss Oel> In der<lb/> civitss terrena beherrscht die Materie als Ziel die Triebe der Menschen. Es<lb/> liegt in dem Wesen der materiellen Güter, daß sie entzweien. Was der eine hat,<lb/> kann d r andere nicht haben, und immer hat der eine mehr als der andere.<lb/> Die civiws terrena ist in irgendeiner Form der Kampf aller gegen alle. Das<lb/> Geistige, das in ihr lebt, ist Mittel, Technik, das Ziel bleibt irgendwie stets<lb/> materieller Genuß. Infolgedessen ist hier der Mensch im Grunde des Menschen<lb/> Fund, wenn er auch, um den Menschen als Mittel zu benützen, Stücke Wegs<lb/> mit ihm zusammengeht. Von Stufe zu Stufe führt die civitas terrena zur<lb/> Selbstzerfleischung und Selbstauflösung. So geht es durch alle Kreise des Inferno<lb/> hinab bis zur Vollendung: dem rein isolierten Individuum, das in der Materie<lb/> erstarrt. Ergebnis: das Elend jedes einzelnen und aller zusammen. Rein<lb/> Militaristisch gesehen ist die civitas terrena eine verfehlte Sache, ein Widerspruch<lb/> w sich selbst. Ob es sich nun um das Verhalten untereinander streitender<lb/> Völker oder sich bekämpfender Klassen im Staat oder um sonstige dissoziative<lb/> Erscheinungen handelt bis herab zu den Spaltungen innerhalb der en gten<lb/> Kreise, bis zu Ehebruch oder dem Verrat an Kameraden, überall zeigt<lb/> dieser Typus der civitas terrena die Grunderscheinung: daß das materielle Gut<lb/> entzweit statt zu verbinden, unselig macht statt zu befreien. Es ist die Tendenz<lb/> zur Vereinzelung und zum Chaos.</p><lb/> <note xml:id="FID_18" place="foot"> ") F. Kern, Nuinsns civilitss. Staat, Kirche und Kulwr (Mittelalterliche Studien I),<lb/> Leipzig 1913. F. Kern, Dante. Tübingen 1914.</note><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0253]
den Massendelikten gegen das Gemeinwohl gegenübersteht, durch Zwang seine
Autorität wieder zu erkämpfen. Aber nichts ist gefährlicher für die letzten Reste
von Staatsansehen als drakonische Drohungen, die auf dem Papier bleiben Je
weniger der Staat fertig bringt, desto leichter überschreit er sich. Milde Gesetze
und ihre stritte Befolgung sind das Zeichen einer gesunden Gemeinschaft, strenge
Gesetze und eine davon weit abweichende laxe Übung das Merkmal einer zerrissenen
Gesellschaft.
4.
So wie wir hier zusammengekommen sind, meine Herren, um Maßstäbe
für das Ungeheure unserer weltgeschichtlich gewordenen Zeit zu finden, so ver¬
suchen es heute in Deutschland manche, die vielfach überlebten, für eine andere Zeit-
siimmurg geschaffenen Begriffe umzuschmelzcn und das verworrene Schicksal, das uns
alle umgibt, mit der Klarheit des Gedankens zu durchdringen. Meine wissenschaftliche
Überzeugung ist es, daß nichts rascher zum Mittelpunkt des Problems hinführt
als die alte christliche Gesellschaftslehre, — sowie überhaupt nichts in der
chaotischen Gegenwart mehr Zukunft hat als alte verdunkelte religiöse und sittliche
Wahrheiten. Lassen Sie mich darum einmal die Umbildung Deutschlands in
dieser unserer Zeit auffassen als ein gewaltiges Paradigma für die Gesellschafts¬
lehre, wie sie Ihnen aus den Bekenntmsschristen der evangelischen Kirche und
aus der Weisheit der Kirchenväter und der mittelalterlichen Denker entgegen¬
springt. Ich will versuchen, mit äußerster Kürze die wesentlichen Begriffe heraus¬
zuheben, wie sie mir aus Augustin und Dante, aus der Scholastik und der
Gedankenarbeit des christlichen Naturrechts geläufig find.*)
Wir haben zwei Grundtypen, die materiell gerichtete Gesellschaft und die
idealistisch gerichtete Gemeinschaft, civitss terrens und civitss Oel> In der
civitss terrena beherrscht die Materie als Ziel die Triebe der Menschen. Es
liegt in dem Wesen der materiellen Güter, daß sie entzweien. Was der eine hat,
kann d r andere nicht haben, und immer hat der eine mehr als der andere.
Die civiws terrena ist in irgendeiner Form der Kampf aller gegen alle. Das
Geistige, das in ihr lebt, ist Mittel, Technik, das Ziel bleibt irgendwie stets
materieller Genuß. Infolgedessen ist hier der Mensch im Grunde des Menschen
Fund, wenn er auch, um den Menschen als Mittel zu benützen, Stücke Wegs
mit ihm zusammengeht. Von Stufe zu Stufe führt die civitas terrena zur
Selbstzerfleischung und Selbstauflösung. So geht es durch alle Kreise des Inferno
hinab bis zur Vollendung: dem rein isolierten Individuum, das in der Materie
erstarrt. Ergebnis: das Elend jedes einzelnen und aller zusammen. Rein
Militaristisch gesehen ist die civitas terrena eine verfehlte Sache, ein Widerspruch
w sich selbst. Ob es sich nun um das Verhalten untereinander streitender
Völker oder sich bekämpfender Klassen im Staat oder um sonstige dissoziative
Erscheinungen handelt bis herab zu den Spaltungen innerhalb der en gten
Kreise, bis zu Ehebruch oder dem Verrat an Kameraden, überall zeigt
dieser Typus der civitas terrena die Grunderscheinung: daß das materielle Gut
entzweit statt zu verbinden, unselig macht statt zu befreien. Es ist die Tendenz
zur Vereinzelung und zum Chaos.
") F. Kern, Nuinsns civilitss. Staat, Kirche und Kulwr (Mittelalterliche Studien I),
Leipzig 1913. F. Kern, Dante. Tübingen 1914.
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