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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Der politische Dichter vom 9. November

waren. Es fehlten die vorzeitig nach dem Osten geschickten beiden Armeekorps.
Es fehlten zu deren Ersatz die Korps, die die O. H. L. in richtiger, wenn auch ver¬
späteter Erkenntnis der Läge aus der Heimat -- IX. Reservekorps -- und vom linken
Flügel des Heeres jetzt heranführte. Anfang September waren das A. O. K. 7 und
das XV. A. K. aus französisch Lothringen nach Belgien in Marsch gesetzt worden,
wo aus diesem, dem IX. Reservekorps und den nach dem Fall der belgischen
Festungen frei werdenden Korps "me neue 7. Armee gebildet wurde. Aber es war
Zu spät! Hätten am 7. oder 8. September zwei oder drei Korps dieser 7. Armee
bei Se. Quentin versammelt sein können, so war menschlichem Ermessen nach nicht
nur der taktische Erfolg gewährleistet, sondern auch die strategische Auswirkung der
gewaltigen Schlacht hätte dem Feldzuge ein ganz anderes Aussehen gegeben. Der
weitere Verlauf, selbst wenn es zum Stellungskrieg gekommen wäre, hätte eine für
uns erheblich günstigere Basis erhalten. Es sei hier nur auf die in' der "Kritik des
Weltkrieges" näher erläuterte Linie Metz--Dieppe hingewiesen, durch die die ganze
Kanalküste in unsere Hand siel, die Küste Dünkirchen--Calais, für deren Ge¬
winnung wir in der Folgezeit vergeblich die blutigsten Opfer brachten.

Des Rätsels Lösung? Die Marneschlacht, deren taktischen Erfolg wir am
" September schon in der Hand zu halten schienen, ging verloren durch Unzuläng¬
lichkeiten unserer obersten Führung, die es nicht verstand, die Armeen überall in dem
von ihr gewallten Sinne einzusetzen und zu leiten, und die versäumt hatte, rechtzeitig
die nötigen Reserven hinter dem rechten Hceresflügel bereitzustellen.




Der politische Dichter vom 9. November
Eduard Reimers von

jahrzehntelang hat die sozialdemokratische Partei zwar nicht
darunter gelitten, aber es insgeheim doch als lastenden Mangel
empfunden, daß aus ihren Reihen kein Dichter erstand.
Die ungeheure Volks- und Völkerbewegung, die Morgenröte
der Welt, der angeblich vulkanischste und heiligste Gedanke
aller Zeiten, und niemand, der ihn in glutende Verse zu gießen wußte! "August
sein auf dem Thron, wenn kein Horaz ihn singt!" stöhnte wohl schon der wackere
Bebel. schreckte den Genius, der sich doch alleweil mit Feuer auf die Seite
der Bedrängten stellte (zumal der deutsche Genius!), schreckte ihn die Spießigkeit
der roten Stürmer und Dränger, oder erkannte sein Strcchlenblick allzu scharf,
daß sich hinter idealistischen Gerede nur grob materialistische Bestrebungen
verbargen, wie sie nachher zur jammervollen Lohnrevolution von 1918 führten?
Das Dichtervolk, sonst immer zur Fronde und Empörung geneigt, von Wilhelms
herrschenden Gewalten wahrhaftig nicht geködert und verwöhnt, hielt sich
abseits. Kein Freiligrath und Herwegh sprengten tyrtäisch dem Proletarier¬
heerbann voran; Wilhelm Blos. Pfannkuch, Jakob Autors hießen die Müh-


Grenzbotm III 1920 21
Der politische Dichter vom 9. November

waren. Es fehlten die vorzeitig nach dem Osten geschickten beiden Armeekorps.
Es fehlten zu deren Ersatz die Korps, die die O. H. L. in richtiger, wenn auch ver¬
späteter Erkenntnis der Läge aus der Heimat — IX. Reservekorps — und vom linken
Flügel des Heeres jetzt heranführte. Anfang September waren das A. O. K. 7 und
das XV. A. K. aus französisch Lothringen nach Belgien in Marsch gesetzt worden,
wo aus diesem, dem IX. Reservekorps und den nach dem Fall der belgischen
Festungen frei werdenden Korps «me neue 7. Armee gebildet wurde. Aber es war
Zu spät! Hätten am 7. oder 8. September zwei oder drei Korps dieser 7. Armee
bei Se. Quentin versammelt sein können, so war menschlichem Ermessen nach nicht
nur der taktische Erfolg gewährleistet, sondern auch die strategische Auswirkung der
gewaltigen Schlacht hätte dem Feldzuge ein ganz anderes Aussehen gegeben. Der
weitere Verlauf, selbst wenn es zum Stellungskrieg gekommen wäre, hätte eine für
uns erheblich günstigere Basis erhalten. Es sei hier nur auf die in' der „Kritik des
Weltkrieges" näher erläuterte Linie Metz—Dieppe hingewiesen, durch die die ganze
Kanalküste in unsere Hand siel, die Küste Dünkirchen—Calais, für deren Ge¬
winnung wir in der Folgezeit vergeblich die blutigsten Opfer brachten.

Des Rätsels Lösung? Die Marneschlacht, deren taktischen Erfolg wir am
" September schon in der Hand zu halten schienen, ging verloren durch Unzuläng¬
lichkeiten unserer obersten Führung, die es nicht verstand, die Armeen überall in dem
von ihr gewallten Sinne einzusetzen und zu leiten, und die versäumt hatte, rechtzeitig
die nötigen Reserven hinter dem rechten Hceresflügel bereitzustellen.




Der politische Dichter vom 9. November
Eduard Reimers von

jahrzehntelang hat die sozialdemokratische Partei zwar nicht
darunter gelitten, aber es insgeheim doch als lastenden Mangel
empfunden, daß aus ihren Reihen kein Dichter erstand.
Die ungeheure Volks- und Völkerbewegung, die Morgenröte
der Welt, der angeblich vulkanischste und heiligste Gedanke
aller Zeiten, und niemand, der ihn in glutende Verse zu gießen wußte! „August
sein auf dem Thron, wenn kein Horaz ihn singt!" stöhnte wohl schon der wackere
Bebel. schreckte den Genius, der sich doch alleweil mit Feuer auf die Seite
der Bedrängten stellte (zumal der deutsche Genius!), schreckte ihn die Spießigkeit
der roten Stürmer und Dränger, oder erkannte sein Strcchlenblick allzu scharf,
daß sich hinter idealistischen Gerede nur grob materialistische Bestrebungen
verbargen, wie sie nachher zur jammervollen Lohnrevolution von 1918 führten?
Das Dichtervolk, sonst immer zur Fronde und Empörung geneigt, von Wilhelms
herrschenden Gewalten wahrhaftig nicht geködert und verwöhnt, hielt sich
abseits. Kein Freiligrath und Herwegh sprengten tyrtäisch dem Proletarier¬
heerbann voran; Wilhelm Blos. Pfannkuch, Jakob Autors hießen die Müh-


Grenzbotm III 1920 21
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[0325] Der politische Dichter vom 9. November waren. Es fehlten die vorzeitig nach dem Osten geschickten beiden Armeekorps. Es fehlten zu deren Ersatz die Korps, die die O. H. L. in richtiger, wenn auch ver¬ späteter Erkenntnis der Läge aus der Heimat — IX. Reservekorps — und vom linken Flügel des Heeres jetzt heranführte. Anfang September waren das A. O. K. 7 und das XV. A. K. aus französisch Lothringen nach Belgien in Marsch gesetzt worden, wo aus diesem, dem IX. Reservekorps und den nach dem Fall der belgischen Festungen frei werdenden Korps «me neue 7. Armee gebildet wurde. Aber es war Zu spät! Hätten am 7. oder 8. September zwei oder drei Korps dieser 7. Armee bei Se. Quentin versammelt sein können, so war menschlichem Ermessen nach nicht nur der taktische Erfolg gewährleistet, sondern auch die strategische Auswirkung der gewaltigen Schlacht hätte dem Feldzuge ein ganz anderes Aussehen gegeben. Der weitere Verlauf, selbst wenn es zum Stellungskrieg gekommen wäre, hätte eine für uns erheblich günstigere Basis erhalten. Es sei hier nur auf die in' der „Kritik des Weltkrieges" näher erläuterte Linie Metz—Dieppe hingewiesen, durch die die ganze Kanalküste in unsere Hand siel, die Küste Dünkirchen—Calais, für deren Ge¬ winnung wir in der Folgezeit vergeblich die blutigsten Opfer brachten. Des Rätsels Lösung? Die Marneschlacht, deren taktischen Erfolg wir am " September schon in der Hand zu halten schienen, ging verloren durch Unzuläng¬ lichkeiten unserer obersten Führung, die es nicht verstand, die Armeen überall in dem von ihr gewallten Sinne einzusetzen und zu leiten, und die versäumt hatte, rechtzeitig die nötigen Reserven hinter dem rechten Hceresflügel bereitzustellen. Der politische Dichter vom 9. November Eduard Reimers von jahrzehntelang hat die sozialdemokratische Partei zwar nicht darunter gelitten, aber es insgeheim doch als lastenden Mangel empfunden, daß aus ihren Reihen kein Dichter erstand. Die ungeheure Volks- und Völkerbewegung, die Morgenröte der Welt, der angeblich vulkanischste und heiligste Gedanke aller Zeiten, und niemand, der ihn in glutende Verse zu gießen wußte! „August sein auf dem Thron, wenn kein Horaz ihn singt!" stöhnte wohl schon der wackere Bebel. schreckte den Genius, der sich doch alleweil mit Feuer auf die Seite der Bedrängten stellte (zumal der deutsche Genius!), schreckte ihn die Spießigkeit der roten Stürmer und Dränger, oder erkannte sein Strcchlenblick allzu scharf, daß sich hinter idealistischen Gerede nur grob materialistische Bestrebungen verbargen, wie sie nachher zur jammervollen Lohnrevolution von 1918 führten? Das Dichtervolk, sonst immer zur Fronde und Empörung geneigt, von Wilhelms herrschenden Gewalten wahrhaftig nicht geködert und verwöhnt, hielt sich abseits. Kein Freiligrath und Herwegh sprengten tyrtäisch dem Proletarier¬ heerbann voran; Wilhelm Blos. Pfannkuch, Jakob Autors hießen die Müh- Grenzbotm III 1920 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/325>, abgerufen am 29.06.2024.