Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die polnische Nationalitätenfrage

Die polnische Nationalitätenfrage
Gerichtsassessor ol-. Walter Schätze! von

kund die auswärtige Politik folgt gewissen allgemeinen, wissen¬
schaftlich erforschbaren Grundsätzen. Der Staat ist in seinen
"Entschließungen so wenig frei wie der Einzelmensch; nationale,
"wirtschaftliche, geographische und strategische Rücksichten weisen
>ihm meist mehr oder weniger deutlich den Weg seiner auswärtigen
Politik. An die erste Stelle gerückt ist durch den Weltkrieg und die Friedens¬
schlüsse die ethnographische Frage. Nach der Idee der Entente stauten sollte der
europäische Frieden aufgebaut werden auf dem Nationalitätenprinzip. Bei der
nationalen Zerrissenheit Mittel- und Osteuropas und der Bedeutung, die gerade
hier die wirtschaftlichen Bande zwischen den einzelnen Ländern haben, kann an
der Richtigkeit und Durchführbarkeit dieser Idee gezweifelt werden. Die in den
Pariser Friedensschlüssen umgebildeten und neugeschaffenen Staaten sind
sämtlich wirtschaftliche Krüppel, die zu einem wirtschaftlichen Eigenleben noch
viel weniger befähigt sind als die größeren Staatsgebilde der Vorkriegszeit.
Die Entwicklung geht seit langem auf eine Vergrößerung der zu klein gewordenen
Wirtschaftseinheiten. Die Zollunionen in Italien, Deutschland, Kanada, Austra¬
lien und Südafrika kennzeichnen zuletzt den Weg dieser Entwicklung. Die Zwerg¬
gebilde der Friedensschlüsse stellen demgegenüber jedenfalls einen Rückschritt
dar. Und dies, ohne daß das so laut verkündete Ziel des streng nationalen
Aufbaus Europas auch nur annähernd erreicht wäre. Man kann ohne Über¬
treibung sagen, daß die neue staatliche Einteilung Europas viel größere nationale
Vergewaltigungen enthält als die alte. Für den Frieden Europas ergeben diese
nationalen und wirtschaftlichen Mängel die denkbar schlechtesten Aussichten.

Zu einem Gefahrpunkt erster Ordnung droht der polnische Staat
zu werden, der jedweder Geschlossenheit auf nationalem, wirtschaftlichem und
geographischem Gebiet entbehrt. Bekanntlich sehen die Ententestaaten gerade
in seiner Wiedererrichtung die Wiedergutmachung eines jahrhundertealten
Unrechts. Dabei übersehen sie allerdings mit Absicht, daß das alte Polen nichts
weniger als ein Nationalstaat, sondern ein reiner Territorialstaat war, in dem
eine polnische Minderheit über eine fremdsprachige Mehrheit eine nicht nur in
nationaler Beziehung anfechtbare Gewaltherrschaft ausübte. Im neuen Polen
wird es anscheinend nicht viel anders werden. Die Statistik gibt uns davon
folgendes Bild'):

Vom national-polnischen Standpunkt am günstigsten steht Kongreßpolen,
da, wo von etwa 12 Millionen Einwohner etwas über 9 Millionen Polen sind.
Immerhin finden sich auch hier Minderheiten von über l ^ Million Juden,
V- Million Deutsche, -4 Million Russen und Ukrainer, 55 Million Litauer.
Bekannt ist, daß die Juden in manchen Städten weit über die Hälfte der Be-



i) Die folgenden Zahlen habe ich in der Mehrzahl dem Werke von Stanislaw Thugutt,
?oIKs i ?o1ac^, Warschau 1915, entnommen. Sie haben sich, soweit ich sie an anderen
Statistiker nachprüfen konnte, im großen und ganzen als zuverlässig erwiesen. Die Zahlen
geben etwa den Stand von 1909/10 wieder.
Die polnische Nationalitätenfrage

Die polnische Nationalitätenfrage
Gerichtsassessor ol-. Walter Schätze! von

kund die auswärtige Politik folgt gewissen allgemeinen, wissen¬
schaftlich erforschbaren Grundsätzen. Der Staat ist in seinen
«Entschließungen so wenig frei wie der Einzelmensch; nationale,
«wirtschaftliche, geographische und strategische Rücksichten weisen
>ihm meist mehr oder weniger deutlich den Weg seiner auswärtigen
Politik. An die erste Stelle gerückt ist durch den Weltkrieg und die Friedens¬
schlüsse die ethnographische Frage. Nach der Idee der Entente stauten sollte der
europäische Frieden aufgebaut werden auf dem Nationalitätenprinzip. Bei der
nationalen Zerrissenheit Mittel- und Osteuropas und der Bedeutung, die gerade
hier die wirtschaftlichen Bande zwischen den einzelnen Ländern haben, kann an
der Richtigkeit und Durchführbarkeit dieser Idee gezweifelt werden. Die in den
Pariser Friedensschlüssen umgebildeten und neugeschaffenen Staaten sind
sämtlich wirtschaftliche Krüppel, die zu einem wirtschaftlichen Eigenleben noch
viel weniger befähigt sind als die größeren Staatsgebilde der Vorkriegszeit.
Die Entwicklung geht seit langem auf eine Vergrößerung der zu klein gewordenen
Wirtschaftseinheiten. Die Zollunionen in Italien, Deutschland, Kanada, Austra¬
lien und Südafrika kennzeichnen zuletzt den Weg dieser Entwicklung. Die Zwerg¬
gebilde der Friedensschlüsse stellen demgegenüber jedenfalls einen Rückschritt
dar. Und dies, ohne daß das so laut verkündete Ziel des streng nationalen
Aufbaus Europas auch nur annähernd erreicht wäre. Man kann ohne Über¬
treibung sagen, daß die neue staatliche Einteilung Europas viel größere nationale
Vergewaltigungen enthält als die alte. Für den Frieden Europas ergeben diese
nationalen und wirtschaftlichen Mängel die denkbar schlechtesten Aussichten.

Zu einem Gefahrpunkt erster Ordnung droht der polnische Staat
zu werden, der jedweder Geschlossenheit auf nationalem, wirtschaftlichem und
geographischem Gebiet entbehrt. Bekanntlich sehen die Ententestaaten gerade
in seiner Wiedererrichtung die Wiedergutmachung eines jahrhundertealten
Unrechts. Dabei übersehen sie allerdings mit Absicht, daß das alte Polen nichts
weniger als ein Nationalstaat, sondern ein reiner Territorialstaat war, in dem
eine polnische Minderheit über eine fremdsprachige Mehrheit eine nicht nur in
nationaler Beziehung anfechtbare Gewaltherrschaft ausübte. Im neuen Polen
wird es anscheinend nicht viel anders werden. Die Statistik gibt uns davon
folgendes Bild'):

Vom national-polnischen Standpunkt am günstigsten steht Kongreßpolen,
da, wo von etwa 12 Millionen Einwohner etwas über 9 Millionen Polen sind.
Immerhin finden sich auch hier Minderheiten von über l ^ Million Juden,
V- Million Deutsche, -4 Million Russen und Ukrainer, 55 Million Litauer.
Bekannt ist, daß die Juden in manchen Städten weit über die Hälfte der Be-



i) Die folgenden Zahlen habe ich in der Mehrzahl dem Werke von Stanislaw Thugutt,
?oIKs i ?o1ac^, Warschau 1915, entnommen. Sie haben sich, soweit ich sie an anderen
Statistiker nachprüfen konnte, im großen und ganzen als zuverlässig erwiesen. Die Zahlen
geben etwa den Stand von 1909/10 wieder.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0180" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337821"/>
          <fw type="header" place="top"> Die polnische Nationalitätenfrage</fw><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die polnische Nationalitätenfrage<lb/><note type="byline"> Gerichtsassessor ol-. Walter Schätze!</note> von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_659"> kund die auswärtige Politik folgt gewissen allgemeinen, wissen¬<lb/>
schaftlich erforschbaren Grundsätzen. Der Staat ist in seinen<lb/>
«Entschließungen so wenig frei wie der Einzelmensch; nationale,<lb/>
«wirtschaftliche, geographische und strategische Rücksichten weisen<lb/>
&gt;ihm meist mehr oder weniger deutlich den Weg seiner auswärtigen<lb/>
Politik. An die erste Stelle gerückt ist durch den Weltkrieg und die Friedens¬<lb/>
schlüsse die ethnographische Frage. Nach der Idee der Entente stauten sollte der<lb/>
europäische Frieden aufgebaut werden auf dem Nationalitätenprinzip. Bei der<lb/>
nationalen Zerrissenheit Mittel- und Osteuropas und der Bedeutung, die gerade<lb/>
hier die wirtschaftlichen Bande zwischen den einzelnen Ländern haben, kann an<lb/>
der Richtigkeit und Durchführbarkeit dieser Idee gezweifelt werden. Die in den<lb/>
Pariser Friedensschlüssen umgebildeten und neugeschaffenen Staaten sind<lb/>
sämtlich wirtschaftliche Krüppel, die zu einem wirtschaftlichen Eigenleben noch<lb/>
viel weniger befähigt sind als die größeren Staatsgebilde der Vorkriegszeit.<lb/>
Die Entwicklung geht seit langem auf eine Vergrößerung der zu klein gewordenen<lb/>
Wirtschaftseinheiten. Die Zollunionen in Italien, Deutschland, Kanada, Austra¬<lb/>
lien und Südafrika kennzeichnen zuletzt den Weg dieser Entwicklung. Die Zwerg¬<lb/>
gebilde der Friedensschlüsse stellen demgegenüber jedenfalls einen Rückschritt<lb/>
dar. Und dies, ohne daß das so laut verkündete Ziel des streng nationalen<lb/>
Aufbaus Europas auch nur annähernd erreicht wäre. Man kann ohne Über¬<lb/>
treibung sagen, daß die neue staatliche Einteilung Europas viel größere nationale<lb/>
Vergewaltigungen enthält als die alte. Für den Frieden Europas ergeben diese<lb/>
nationalen und wirtschaftlichen Mängel die denkbar schlechtesten Aussichten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_660"> Zu einem Gefahrpunkt erster Ordnung droht der polnische Staat<lb/>
zu werden, der jedweder Geschlossenheit auf nationalem, wirtschaftlichem und<lb/>
geographischem Gebiet entbehrt. Bekanntlich sehen die Ententestaaten gerade<lb/>
in seiner Wiedererrichtung die Wiedergutmachung eines jahrhundertealten<lb/>
Unrechts. Dabei übersehen sie allerdings mit Absicht, daß das alte Polen nichts<lb/>
weniger als ein Nationalstaat, sondern ein reiner Territorialstaat war, in dem<lb/>
eine polnische Minderheit über eine fremdsprachige Mehrheit eine nicht nur in<lb/>
nationaler Beziehung anfechtbare Gewaltherrschaft ausübte. Im neuen Polen<lb/>
wird es anscheinend nicht viel anders werden. Die Statistik gibt uns davon<lb/>
folgendes Bild'):</p><lb/>
          <p xml:id="ID_661" next="#ID_662"> Vom national-polnischen Standpunkt am günstigsten steht Kongreßpolen,<lb/>
da, wo von etwa 12 Millionen Einwohner etwas über 9 Millionen Polen sind.<lb/>
Immerhin finden sich auch hier Minderheiten von über l ^ Million Juden,<lb/>
V- Million Deutsche, -4 Million Russen und Ukrainer, 55 Million Litauer.<lb/>
Bekannt ist, daß die Juden in manchen Städten weit über die Hälfte der Be-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_4" place="foot"> i) Die folgenden Zahlen habe ich in der Mehrzahl dem Werke von Stanislaw Thugutt,<lb/>
?oIKs i ?o1ac^, Warschau 1915, entnommen. Sie haben sich, soweit ich sie an anderen<lb/>
Statistiker nachprüfen konnte, im großen und ganzen als zuverlässig erwiesen. Die Zahlen<lb/>
geben etwa den Stand von 1909/10 wieder.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0180] Die polnische Nationalitätenfrage Die polnische Nationalitätenfrage Gerichtsassessor ol-. Walter Schätze! von kund die auswärtige Politik folgt gewissen allgemeinen, wissen¬ schaftlich erforschbaren Grundsätzen. Der Staat ist in seinen «Entschließungen so wenig frei wie der Einzelmensch; nationale, «wirtschaftliche, geographische und strategische Rücksichten weisen >ihm meist mehr oder weniger deutlich den Weg seiner auswärtigen Politik. An die erste Stelle gerückt ist durch den Weltkrieg und die Friedens¬ schlüsse die ethnographische Frage. Nach der Idee der Entente stauten sollte der europäische Frieden aufgebaut werden auf dem Nationalitätenprinzip. Bei der nationalen Zerrissenheit Mittel- und Osteuropas und der Bedeutung, die gerade hier die wirtschaftlichen Bande zwischen den einzelnen Ländern haben, kann an der Richtigkeit und Durchführbarkeit dieser Idee gezweifelt werden. Die in den Pariser Friedensschlüssen umgebildeten und neugeschaffenen Staaten sind sämtlich wirtschaftliche Krüppel, die zu einem wirtschaftlichen Eigenleben noch viel weniger befähigt sind als die größeren Staatsgebilde der Vorkriegszeit. Die Entwicklung geht seit langem auf eine Vergrößerung der zu klein gewordenen Wirtschaftseinheiten. Die Zollunionen in Italien, Deutschland, Kanada, Austra¬ lien und Südafrika kennzeichnen zuletzt den Weg dieser Entwicklung. Die Zwerg¬ gebilde der Friedensschlüsse stellen demgegenüber jedenfalls einen Rückschritt dar. Und dies, ohne daß das so laut verkündete Ziel des streng nationalen Aufbaus Europas auch nur annähernd erreicht wäre. Man kann ohne Über¬ treibung sagen, daß die neue staatliche Einteilung Europas viel größere nationale Vergewaltigungen enthält als die alte. Für den Frieden Europas ergeben diese nationalen und wirtschaftlichen Mängel die denkbar schlechtesten Aussichten. Zu einem Gefahrpunkt erster Ordnung droht der polnische Staat zu werden, der jedweder Geschlossenheit auf nationalem, wirtschaftlichem und geographischem Gebiet entbehrt. Bekanntlich sehen die Ententestaaten gerade in seiner Wiedererrichtung die Wiedergutmachung eines jahrhundertealten Unrechts. Dabei übersehen sie allerdings mit Absicht, daß das alte Polen nichts weniger als ein Nationalstaat, sondern ein reiner Territorialstaat war, in dem eine polnische Minderheit über eine fremdsprachige Mehrheit eine nicht nur in nationaler Beziehung anfechtbare Gewaltherrschaft ausübte. Im neuen Polen wird es anscheinend nicht viel anders werden. Die Statistik gibt uns davon folgendes Bild'): Vom national-polnischen Standpunkt am günstigsten steht Kongreßpolen, da, wo von etwa 12 Millionen Einwohner etwas über 9 Millionen Polen sind. Immerhin finden sich auch hier Minderheiten von über l ^ Million Juden, V- Million Deutsche, -4 Million Russen und Ukrainer, 55 Million Litauer. Bekannt ist, daß die Juden in manchen Städten weit über die Hälfte der Be- i) Die folgenden Zahlen habe ich in der Mehrzahl dem Werke von Stanislaw Thugutt, ?oIKs i ?o1ac^, Warschau 1915, entnommen. Sie haben sich, soweit ich sie an anderen Statistiker nachprüfen konnte, im großen und ganzen als zuverlässig erwiesen. Die Zahlen geben etwa den Stand von 1909/10 wieder.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/180
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/180>, abgerufen am 29.06.2024.