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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.

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Drinnen und draußen

Drinnen und draußen

[Beginn Spaltensatz]

Von
einem vertriebenen Elsaß-Lothringer erhalten
wir die folgende interessante Zuschrift:

Ein ArSeitcrbrief aus dem Elsaß.

Ich lebte vor dem Kriege in einem
oberelsässischen Fabrilstädtchen. Die kom¬
munale Arbeiterpflege, in der meine Frau
tätig war, brachte uns in Beziehungen zu
einer Proletarierfamilie, die ihren herzlichen
persönlichen Charakter auch über den Krieg
und seinen unglücklichen Ausgang hinweg
bewahrt haben. Ein Brief, den wir kürz¬
lich von diesem elsässischen Arbeiter, dein
Vater einer vielköpfigen Familie, erhielten,
scheint mir das Interesse weiterer Kreise be¬
anspruchen zu dürfen. Der Schreiber war
vor demi Kriege politisch uninteressiert, seine
Ausführungen sprechen dafür, daß mit der
Politisierung durch die uniwälzenden Ereig¬
nisse zugleich ein schüchternes Erwachen be¬
wußter nationaler Instinkte im elsässischen
Proletariat bemerkbar ist. Einige Stellen
ans dem Briefe, die als Stimmungssymp¬
tome von Interesse sind, gebe ich im Wort¬
laut wieder, ohne an der ungeschickten
Diktion Änderungen vorzunehmen: "Nun
will ich Ihnen erzählen, wie es bei uns
aussieht, alles teuer, sodaß man es kaum
erschwingen kann, und vom 13. März ab
wird die Teuerung infolge der hohen
Steuern noch größer werden, z. V. das Brot
kostet 5 Pfund 2,60 Fr., das Fleisch das
Pfund 2,10 Fr., Butter 8 Fr., Eier ö,23
bis 7 Fr,, verkaufe eben selbst Eier zu 6.23
das Dutzend, habe schon über 2V0 Dutzend
verlauft in 14 Tagen, dies nebenbei. Es
werden vom 13. März ab auch bei uns
wieder Brotkarten eingeführt. Sie sehen,
daß es auch bei uns nicht so glänzend ist,
bloß daß man alles haben kann, natürlich
wer Geld hat, der arme Teufel ist halt
auch schlecht daran. Ich kann Ihnen ver¬
sichern, eine gesunde Weltsinanzpoliiik wäre
viel notwendiger wie die Auslieferungsfrage
der Schuldigen. Denn ich als armer Pro¬
letarier frage mich, wo soll das hinführen?
Antwort: zum Staatsba"k"oll verschiedener
Länder, wenn der Franken wie die Mark
so weiter sinkt, ich verfolge nämlich auch den
Kurs und Sie werden sehen, daß ich recht

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habe. Wir haben eine sozialdemokratische
Gemeinderntsmehrheit. .. Unsere Stadt hat
auch schöne Schulden gemacht während dem
Kriege, die wir jetzt durch Zuschlagpfennige
decken müsse". Einen Blick in die Schule:
Es wird nur noch französisch gelernt, wo¬
gegen schon mehrmals Protest erhoben wor¬
den ist, da wir als Grenzland auch die
deutsche Sprache verlangen und nur mit
Recht. Ich nutz selbst die jüngsten Kinder
deutsch lesen und schreiben lehren . .

Man wird die Anzeichen nicht überschätzen
dürfen. Gerade die soziale Abhängigkeit
des rückständigen oberelsässischen Proletariats
von der gänzlich französierten Fabrikantcn-
klique hat gerade dort von jeher auch national
verhecrsnd gewirkt. Von dem nationalen
Selbsterhaltungstrieb der gesunden Elemente
des Volkes, den die satte Bourgeoisie nicht
kennt, geben aber doch auch die.Mgeführten
Zeilen Zeugnis. Erschütternder noch wirkte
eine Stelle in einem früheren Briefe des¬
selben Schreibers, wo er in väterlichem
Stolz von den französischen Spracherfolgen
seiner Kinder erzählte und mit der schlichten
Bemerkung schloß: "Ich und meine Frau
lernen es nicht mehr. Wir verstehen einander
auch so."

Die deutsche Einwanderung in Süd-

Amerika.

Der "Temps" vom 4. Februar
läßt sich aus Brasilien berichten: "Die Aus¬
wanderung der Deutschen nach Süd-Amerika,
besonders nach Argentinien nimmt zu. Kaum
ein holländisches Schiff, das nicht dreihundert
deutsche Einwanderer in Rio de la Plata ab¬
setzt, und zwar keineswegs solche ans den
unteren Volksklassen, sondern aus der Aristo¬
kratie und aus dem Bürgertum. Viele frühere
Offiziere find darunter, Ingenieure usw. mit
ihren Familien und mit Kapital, das hin¬
reicht, landwirtschaftliche und industrielle An¬
lagen zu gründen. Auch sind Persönlichkeiten
darunter, die die Möglichkeiten großer Unter¬
nehmungen, die dör deutschen Tätigkeit Ab¬
satzgebiete schaffen wollen, studieren. ES
scheint, daß alle Expanstonskräfte Deutsch¬
lands sich jetzt, da Deutschland durch den
Versailler Vertrag seiner Kolonien beraubt

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Drinnen und draußen

Drinnen und draußen

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Von
einem vertriebenen Elsaß-Lothringer erhalten
wir die folgende interessante Zuschrift:

Ein ArSeitcrbrief aus dem Elsaß.

Ich lebte vor dem Kriege in einem
oberelsässischen Fabrilstädtchen. Die kom¬
munale Arbeiterpflege, in der meine Frau
tätig war, brachte uns in Beziehungen zu
einer Proletarierfamilie, die ihren herzlichen
persönlichen Charakter auch über den Krieg
und seinen unglücklichen Ausgang hinweg
bewahrt haben. Ein Brief, den wir kürz¬
lich von diesem elsässischen Arbeiter, dein
Vater einer vielköpfigen Familie, erhielten,
scheint mir das Interesse weiterer Kreise be¬
anspruchen zu dürfen. Der Schreiber war
vor demi Kriege politisch uninteressiert, seine
Ausführungen sprechen dafür, daß mit der
Politisierung durch die uniwälzenden Ereig¬
nisse zugleich ein schüchternes Erwachen be¬
wußter nationaler Instinkte im elsässischen
Proletariat bemerkbar ist. Einige Stellen
ans dem Briefe, die als Stimmungssymp¬
tome von Interesse sind, gebe ich im Wort¬
laut wieder, ohne an der ungeschickten
Diktion Änderungen vorzunehmen: „Nun
will ich Ihnen erzählen, wie es bei uns
aussieht, alles teuer, sodaß man es kaum
erschwingen kann, und vom 13. März ab
wird die Teuerung infolge der hohen
Steuern noch größer werden, z. V. das Brot
kostet 5 Pfund 2,60 Fr., das Fleisch das
Pfund 2,10 Fr., Butter 8 Fr., Eier ö,23
bis 7 Fr,, verkaufe eben selbst Eier zu 6.23
das Dutzend, habe schon über 2V0 Dutzend
verlauft in 14 Tagen, dies nebenbei. Es
werden vom 13. März ab auch bei uns
wieder Brotkarten eingeführt. Sie sehen,
daß es auch bei uns nicht so glänzend ist,
bloß daß man alles haben kann, natürlich
wer Geld hat, der arme Teufel ist halt
auch schlecht daran. Ich kann Ihnen ver¬
sichern, eine gesunde Weltsinanzpoliiik wäre
viel notwendiger wie die Auslieferungsfrage
der Schuldigen. Denn ich als armer Pro¬
letarier frage mich, wo soll das hinführen?
Antwort: zum Staatsba»k»oll verschiedener
Länder, wenn der Franken wie die Mark
so weiter sinkt, ich verfolge nämlich auch den
Kurs und Sie werden sehen, daß ich recht

[Spaltenumbruch]

habe. Wir haben eine sozialdemokratische
Gemeinderntsmehrheit. .. Unsere Stadt hat
auch schöne Schulden gemacht während dem
Kriege, die wir jetzt durch Zuschlagpfennige
decken müsse». Einen Blick in die Schule:
Es wird nur noch französisch gelernt, wo¬
gegen schon mehrmals Protest erhoben wor¬
den ist, da wir als Grenzland auch die
deutsche Sprache verlangen und nur mit
Recht. Ich nutz selbst die jüngsten Kinder
deutsch lesen und schreiben lehren . .

Man wird die Anzeichen nicht überschätzen
dürfen. Gerade die soziale Abhängigkeit
des rückständigen oberelsässischen Proletariats
von der gänzlich französierten Fabrikantcn-
klique hat gerade dort von jeher auch national
verhecrsnd gewirkt. Von dem nationalen
Selbsterhaltungstrieb der gesunden Elemente
des Volkes, den die satte Bourgeoisie nicht
kennt, geben aber doch auch die.Mgeführten
Zeilen Zeugnis. Erschütternder noch wirkte
eine Stelle in einem früheren Briefe des¬
selben Schreibers, wo er in väterlichem
Stolz von den französischen Spracherfolgen
seiner Kinder erzählte und mit der schlichten
Bemerkung schloß: „Ich und meine Frau
lernen es nicht mehr. Wir verstehen einander
auch so."

Die deutsche Einwanderung in Süd-

Amerika.

Der „Temps" vom 4. Februar
läßt sich aus Brasilien berichten: „Die Aus¬
wanderung der Deutschen nach Süd-Amerika,
besonders nach Argentinien nimmt zu. Kaum
ein holländisches Schiff, das nicht dreihundert
deutsche Einwanderer in Rio de la Plata ab¬
setzt, und zwar keineswegs solche ans den
unteren Volksklassen, sondern aus der Aristo¬
kratie und aus dem Bürgertum. Viele frühere
Offiziere find darunter, Ingenieure usw. mit
ihren Familien und mit Kapital, das hin¬
reicht, landwirtschaftliche und industrielle An¬
lagen zu gründen. Auch sind Persönlichkeiten
darunter, die die Möglichkeiten großer Unter¬
nehmungen, die dör deutschen Tätigkeit Ab¬
satzgebiete schaffen wollen, studieren. ES
scheint, daß alle Expanstonskräfte Deutsch¬
lands sich jetzt, da Deutschland durch den
Versailler Vertrag seiner Kolonien beraubt

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[0148] Drinnen und draußen Drinnen und draußen Von einem vertriebenen Elsaß-Lothringer erhalten wir die folgende interessante Zuschrift: Ein ArSeitcrbrief aus dem Elsaß. Ich lebte vor dem Kriege in einem oberelsässischen Fabrilstädtchen. Die kom¬ munale Arbeiterpflege, in der meine Frau tätig war, brachte uns in Beziehungen zu einer Proletarierfamilie, die ihren herzlichen persönlichen Charakter auch über den Krieg und seinen unglücklichen Ausgang hinweg bewahrt haben. Ein Brief, den wir kürz¬ lich von diesem elsässischen Arbeiter, dein Vater einer vielköpfigen Familie, erhielten, scheint mir das Interesse weiterer Kreise be¬ anspruchen zu dürfen. Der Schreiber war vor demi Kriege politisch uninteressiert, seine Ausführungen sprechen dafür, daß mit der Politisierung durch die uniwälzenden Ereig¬ nisse zugleich ein schüchternes Erwachen be¬ wußter nationaler Instinkte im elsässischen Proletariat bemerkbar ist. Einige Stellen ans dem Briefe, die als Stimmungssymp¬ tome von Interesse sind, gebe ich im Wort¬ laut wieder, ohne an der ungeschickten Diktion Änderungen vorzunehmen: „Nun will ich Ihnen erzählen, wie es bei uns aussieht, alles teuer, sodaß man es kaum erschwingen kann, und vom 13. März ab wird die Teuerung infolge der hohen Steuern noch größer werden, z. V. das Brot kostet 5 Pfund 2,60 Fr., das Fleisch das Pfund 2,10 Fr., Butter 8 Fr., Eier ö,23 bis 7 Fr,, verkaufe eben selbst Eier zu 6.23 das Dutzend, habe schon über 2V0 Dutzend verlauft in 14 Tagen, dies nebenbei. Es werden vom 13. März ab auch bei uns wieder Brotkarten eingeführt. Sie sehen, daß es auch bei uns nicht so glänzend ist, bloß daß man alles haben kann, natürlich wer Geld hat, der arme Teufel ist halt auch schlecht daran. Ich kann Ihnen ver¬ sichern, eine gesunde Weltsinanzpoliiik wäre viel notwendiger wie die Auslieferungsfrage der Schuldigen. Denn ich als armer Pro¬ letarier frage mich, wo soll das hinführen? Antwort: zum Staatsba»k»oll verschiedener Länder, wenn der Franken wie die Mark so weiter sinkt, ich verfolge nämlich auch den Kurs und Sie werden sehen, daß ich recht habe. Wir haben eine sozialdemokratische Gemeinderntsmehrheit. .. Unsere Stadt hat auch schöne Schulden gemacht während dem Kriege, die wir jetzt durch Zuschlagpfennige decken müsse». Einen Blick in die Schule: Es wird nur noch französisch gelernt, wo¬ gegen schon mehrmals Protest erhoben wor¬ den ist, da wir als Grenzland auch die deutsche Sprache verlangen und nur mit Recht. Ich nutz selbst die jüngsten Kinder deutsch lesen und schreiben lehren . . Man wird die Anzeichen nicht überschätzen dürfen. Gerade die soziale Abhängigkeit des rückständigen oberelsässischen Proletariats von der gänzlich französierten Fabrikantcn- klique hat gerade dort von jeher auch national verhecrsnd gewirkt. Von dem nationalen Selbsterhaltungstrieb der gesunden Elemente des Volkes, den die satte Bourgeoisie nicht kennt, geben aber doch auch die.Mgeführten Zeilen Zeugnis. Erschütternder noch wirkte eine Stelle in einem früheren Briefe des¬ selben Schreibers, wo er in väterlichem Stolz von den französischen Spracherfolgen seiner Kinder erzählte und mit der schlichten Bemerkung schloß: „Ich und meine Frau lernen es nicht mehr. Wir verstehen einander auch so." Die deutsche Einwanderung in Süd- Amerika. Der „Temps" vom 4. Februar läßt sich aus Brasilien berichten: „Die Aus¬ wanderung der Deutschen nach Süd-Amerika, besonders nach Argentinien nimmt zu. Kaum ein holländisches Schiff, das nicht dreihundert deutsche Einwanderer in Rio de la Plata ab¬ setzt, und zwar keineswegs solche ans den unteren Volksklassen, sondern aus der Aristo¬ kratie und aus dem Bürgertum. Viele frühere Offiziere find darunter, Ingenieure usw. mit ihren Familien und mit Kapital, das hin¬ reicht, landwirtschaftliche und industrielle An¬ lagen zu gründen. Auch sind Persönlichkeiten darunter, die die Möglichkeiten großer Unter¬ nehmungen, die dör deutschen Tätigkeit Ab¬ satzgebiete schaffen wollen, studieren. ES scheint, daß alle Expanstonskräfte Deutsch¬ lands sich jetzt, da Deutschland durch den Versailler Vertrag seiner Kolonien beraubt

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/148>, abgerufen am 28.06.2024.